Stachel der Erinnerung
ungezügelten
Leidenschaft, und sie grübelte, ob dies vielleicht der Grund war, weshalb
Matthew nicht bei ihr geblieben war.
Sie warf
noch einen schnellen Blick in den Spiegel, dann holte sie tief Luft und
bereitete sich darauf vor, dem Löwen in seinem Käfig gegenüberzutreten. Sie
konnte es nicht länger hinausschieben, sie mußte wissen, was ihr Mann dachte,
ganz gleich, wie schmerzlich das auch für sie sein mochte. Mit einem kurzen
Stoßgebet zum Himmel öffnete Jessie die Tür ihres Schlafzimmers und ging zur
Treppe.
»Guten
Morgen, Ozzie«, begrüßte sie den Butler, der in der Eingangshalle stand. »Hast
du Lord Strickland gesehen?«
»Es tut mir
sehr leid, Mylady, Seine Lordschaft ist bereits weg.«
Jessie sank
in sich zusammen. »Das habe ich befürchtet.« Sie biß sich nervös auf die Lippe.
»Weißt du, wohin er gegangen ist?«
»Nein,
Mylady. Aber Rollie hat gesagt, er wird erst heute abend zurückerwartet.«
Jessie
stöhnte innerlich auf. Noch ein weiterer Tag, den sie voller Nervosität und
Sorge würde verbringen müssen. »Danke, Ozzie«, sagte sie leise. Wohin war er
gegangen? Warum ging er ihr aus dem Weg? Nach der letzten Nacht wußte sie
einfach nicht mehr, was sie denken sollte.
Der Tag war
entsetzlich. Er bestand aus endlos langen Stunden, die keine Ablenkung
verkürzen konnte. Sie ging Papa Reggie aus dem Weg, weil sie fürchtete, daß er
die Angst in ihren Augen würde sehen können und sie vielleicht dazu drängen
könnte, ihm alles zu erzählen. Statt dessen arbeitete sie den ganzen Tag im
Gewächshaus. Dann ging sie zurück nach oben, um sich zum Essen umzuziehen. Beim
Essen gelang es ihr, die Sorgen vor Papa Reggie zu verbergen, der brummig
erklärt hatte, daß Matthew ihm hätte Bescheid sagen können, wenn er
beabsichtigte, abends nicht zu Hause zu speisen. Der Marquis zog sich früh
zurück. Ihr Ehemann war immer noch nicht zu Hause.
Es war spät
am Abend, als sie ihn in seinem Zimmer nebenan hörte. Panik ergriff sie. Ihr
Herz schlug wild und unregelmäßig. Jessie holte tief Luft, um sich Mut zu
machen. Dann strich sie über ihr elfenbeinfarbenes Seidenkleid, das sie zum
Essen getragen hatte, und lief zur Tür, die zu den Räumen ihres Mannes führte.
Matthew hatte die Krawatte gelockert. Er
ging zum Kamin hinüber, entledigte sich seines dunkelgrünen Reitrocks und
knöpfte das langärmelige weiße Batisthemd am Kragen auf. Er war müde von dem
langen Tag im Sattel, davon, sich so weit zu erschöpfen, um sein Herz und
seinen Verstand von den Gedanken an Jessie zu befreien.
Früher oder
später würde er ihr gegenübertreten müssen, dennoch hielt ihn etwas zurück. Er
war überrascht, als er feststellte, wie sehr er sich vor diesem Augenblick
fürchtete, wie sehr er sich davor fürchtete, das auszusprechen, was die Tage
der Verheißung beenden würde, die er erlebt hatte, seit sie verheiratet waren.
Er wünschte, er könnte sie hassen, doch er fühlte sich ganz einfach nur tot.
Und
einsamer als je zuvor in seinem Leben.
Vielleicht
war es sein Fehler, denn immerhin war er derjenige gewesen, der ihr diese Ehe
aufgezwungen hatte. Dennoch war sie jetzt seine Frau, und er hatte es nicht
verdient, daß sie ihn betrog.
Er hob den
Kopf, als es an der Tür klopfte. Sein Magen zog sich zusammen, als er
feststellte, daß es die Tür war, die zu Jessies Räumen führte, und daß sie
gleich vor ihm stehen würde. Der schicksalhafte Augenblick war da. Er biß die
Zähne zusammen bei dem Gedanken, was vor ihnen lag. Die Erinnerung stieg in
ihm auf, wie sie im Schatten hinter der Taverne gestanden und mit ihrem
Geliebten geflüstert hatte. Doch er verschloß sie gewaltsam in seinem Inneren,
zusammen mit seinen anderen Gefühlen.
Er ging
über den dicken persischen Teppich seines Wohnzimmers, riß die Tür auf und
ließ Jessie ins Zimmer.
Sie trug
elfenbeinfarbene Seide, ihr Haar war zu einer eleganten Krone auf dem Kopf
hochgesteckt, ihre Brüste zeigten sich nur andeutungsweise, und das machte sie
nur noch verlockender. Sie hob den Kopf und sah ihn an.
»Guten
Abend, Mylord.«
Ein
zynisches Lächeln umspielte seinen Mund. »Guten Abend ... Mylady.« Jessie war
sein angespannter Gesichtsausdruck nicht entgangen, alle Farbe wich aus ihrem
Gesicht.
»Ich ...
ich bin froh, daß du endlich zu Hause bist.«
»Bist du
das wirklich?«
»Ja ... ich
... es gibt da einige wichtige Dinge, über die ich mir dir sprechen möchte.«
Er zog
anzüglich eine Augenbraue hoch. »Ach, wirklich,
Weitere Kostenlose Bücher