Stachel der Erinnerung
verdiente, daß ein so stadtbekannter Wüstling wie er sie verfolgte,
erschien sie plötzlich wieder aus dem Nichts und führte ihn erneut in
Versuchung.
Verdammt,
schließlich war er kein Heiliger. Er hatte jeden Tag an sie gedacht, hatte sich
ihr ebenmäßiges Gesicht und ihren wohlgerundeten, zierlichen Körper Hunderte
von Malen in seinen Träumen vorgestellt. Er hatte sich geschworen, sie zu
verführen, um seine verrückte Besessenheit nach ihr zu beenden, und dennoch
hatte er sie in Ruhe gelassen. Verdammt, genug war genug. Er wollte sie haben,
und bei der Art, wie sie sich ständig in Gefahr brachte, würde ein anderer Mann
sie sich früher oder später schnappen. Also würde er es lieber tun.
Er schob
sich durch die Menge der lärmenden Zuschauer und stellte sich stumm neben sie.
Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie ihn bemerkte.
Gwen
starrte gebannt in den Boxring und sah zu, wie die beiden Kämpfer aufeinander
losdroschen. Schweiß rann ihnen in die Augen, er glänzte auf ihren halbnackten
Körpern, und ihre Muskeln spielten unter ihrer nassen Haut. Es war erregend,
mußte sie zugeben, auf eine primitive, animalische Art. Und während sie ihnen
zuschaute, pulsierte das Blut schneller durch ihre Adern. Als der
Herausforderer seinem Gegner einen besonders bösen Schlag auf die Nase
verpaßte, jubelte sie laut. Sie hob die Faust und schrie begeistert wie all die
anderen Leute auch.
Sie war
überrascht gewesen, als sie auch Frauen unter den Zuschauern entdeckt hatte.
Einige von ihnen waren recht modisch gekleidet. Sie fragte sich, was für
Frauen das wohl sein konnten und kam zu dem Schluß, daß es wahrscheinlich die
Geliebten von einigen der Männer waren.
»Macht es
Euch Spaß, Mylady?«
Beim Klang
der wohlbekannten Stimme fuhr Gwen zusammen.
»Da Ihr so
entschlossen seid, als Mann durchzugehen«, murmelte der Vicomte, »würde es
Euch vielleicht Spaß machen, selbst einmal in den Ring zu steigen und ein paar
Runden mit Terrel zu kämpfen.«
Gwen holte
tief Luft. »Müßt Ihr Euch immer heimlich an mich heranschleichen?«
»Offensichtlich
bin ich dazu verdammt, Euch immer wieder zu retten.«
»Falls Ihr
das noch nicht bemerkt haben solltet, Mylord, der einzige, vor dem ich gerettet
werden muß, seid Ihr.«
Er zog die
dichten schwarzen Augenbrauen über seinen silbergrauen Augen zusammen. »In
diesem Fall, Mylady, habt Ihr recht. Ich muß mich wirklich sehr zurückhalten,
Euch nicht zu erwürgen. Ihr seid eine Gefahr für Euch selbst, Gwendolyn Lockhart.
Ganz sicher muß es doch irgend jemanden irgendwo geben, der Euch unter
Kontrolle halten kann.«
Zu ihrem
Erstaunen fühlte Gwen statt heftiger Wut, wie plötzlich Tränen in ihren Augen
brannten. »Warum ist es ein solches Verbrechen, wenn man etwas vom wahren Leben
erfahren will? Warum ist es ein solcher Unterschied, ob Ihr hier seid oder
ich?« Sie sah zu ihm auf, und der umwölkte Blick des Vicomte wurde sanft. Sein
versteinertes Gesicht entspannte sich.
»Vielleicht
habt Ihr recht. Euch erscheint das vielleicht unfair. Doch leider ist das
Leben nur selten fair.«
»Ich will
doch nur alles begreifen, ich möchte das Leben so erfahren, wie Ihr es tut. Und
wenn ich dazu ein Risiko auf mich nehmen muß, dann werde ich das tun.«
Er legte
eine Hand an ihre Wange. »Ihr wollt mehr über das Leben lernen, Gwen? Ich bin
mehr als bereit, Euch darin zu unterrichten.«
Langsam
schüttelte sie den Kopf, obwohl sie nicht so recht wußte, warum. Von dem
Augenblick an, als sie ihn gesehen hatte, hatte sie sich gewünscht, daß der
Vicomte ihr all das beibrachte, was er vom Leben und von der Liebe wußte. Sie
hatte sich nichts mehr ersehnt – mit allen Fasern ihres Herzens.
Er griff
nach ihrem Arm, doch dann hielt er sich zurück, weil ihm klar wurde, wie
unschicklich es wäre, wenn zwei Männer Arm in Arm gingen. Sie glaubte gehört zu
haben, daß er etwas Unflätiges zischte, dann zog er sie weg vom Boxring,
hinüber in den Schatten und weiter in den Park hinein.
»Ihr könnt
nicht hierbleiben«, erklärte er ihr, als niemand sie mehr hören konnte. »Früher
oder später wird jemand bemerken, daß Ihr eine Frau seid und daß Ihr ganz
alleine hier seid. Wenn es so weit kommt, dann seid Ihr eine leichte Beute.«
Gwen zwang
sich, dem Blick seiner grauen Augen standzuhalten. »Ich bin gekommen, um mir
den Boxkampf anzusehen, und ich finde ihn genauso aufregend, wie ich ihn mir
vorgestellt habe. Wenn er vorüber ist, werde ich
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