Stachel der Erinnerung
Garderobe
war Henry das nicht aufgefallen. Und Gwen hatte damals schon vorausgesehen,
daß sie diese Sachen noch einmal brauchen könnte.
Und heute
abend war es wieder soweit. Sie hatte die Absicht, sich einen Boxkampf
anzusehen. Sie hatte davon gelesen, hatte gehört, wie Lord Waring darüber
gesprochen hatte, doch persönlich bei einem solchen Ereignis dabeizusein war
natürlich streng verboten.
Aber Gwen
hatte Verbote schon immer gehaßt.
Sie legte
den breiten Kragen um ihren Hals und band die Krawatte in einer modischen,
übergroßen Schleife. Dann schlüpfte sie in die Weste aus weißem Pikee. Um die
Brust herum war sie zu eng. Aber das war auch besser so, denn sie plättete ihre
Brust und verbarg die weiblichen Rundungen.
Sie warf
einen Blick in den Spiegel, sie konnte es kaum erwarten, endlich loszugehen.
Heute abend sollte der Champion, Terrible Terrel, gegen Rob Kilpatrick den
Mclean kämpfen, einen riesigen, schottischen Preisboxer, der in den Zeitungen
als der Mann gefeiert wurde, der Terrel endlich eine Lektion erteilen würde.
Gwen war
beinahe fertig – ein Mann hatte es mit der Kleidung erheblich einfacher als
eine Frau, stellte sie mal wieder fest. Sie steckte die provisorischen
Manschettenknöpfe in die Ärmel des Hemdes, die sie aus zwei aneinandergenähten
Knöpfen gebastelt hatte. Dann rückte sie die Weste zurecht, zog den
flaschengrünen Überrock an, nahm ihren Hut und stopfte ihr Haar darunter.
Sie machte
sich nicht die Mühe, sich einen falschen Bart anzukleben. Der Kampf wurde im
Honeywell Bear Garden Boxring ausgetragen, einer Freiluftarena in Haymarket,
und das Licht dort würde nicht sehr hell sein. Mit etwas Glück würde sie
unbeobachtet in der Menge untertauchen können. Sie würde als einfacher junger
Mann durchgehen, der sich einen Boxkampf ansah.
Der Gedanke
durchzuckte sie, daß St. Cere auch dasein könnte. In ihrer kurzen Unterhaltung
hatte er erwähnt, daß er sich für sportliche Ereignisse interessierte, für
alles – vorn Pferderennen bis zur Fuchsjagd.
Er liebte
alles, was ihn von seiner Langeweile ablenkte, hatte er behauptet.
Gwen dachte
an ihn, wie an jedem Tag seit ihrer letzten unglücklichen Begegnung, und ein
angenehm warmes Gefühl durchrieselte ihren Körper. Wenn er wirklich dort war,
würde er sie vielleicht erkennen, denn er hatte sie in derselben Kleidung auch
im Fallen Angel gesehen. Dieser Gedanke hielt sie je doch nicht zurück – im
Gegenteil, er schürte ihre Aufregung noch an. Es wäre ideal, wenn sie ihn
entdecken und er sie nicht sehen würde. Das würde ihr die Möglichkeit geben,
ihn ungestört betrachten zu können, um mehr über ilm zu erfahren.
Aber wenn
er sie entdeckte? Wenn er auf sie zukam? Durch Gwens Magen flatterten die
vertrauten Schmetterlinge, und ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Sie
wünschte, sie könnte sich davon überzeugen, daß er nur ein Wüstling war, der
mit ihr ins Bett wollte, daß er sich nichts aus ihr machte und daß sie mit
ihrer Abweisung die richtige Entscheidung getroffen hatte. Das Problem jedoch
war, daß sie sich danach sehnte, bei ihm zu sein, sich von ihm küssen zu lassen,
sich vielleicht sogar nach geraumer Zeit von ihm lieben zu lassen.
Ja ...
vielleicht würde Adam Harcourt dort sein. Wenn das tatsächlich eintrat – wer
wußte, was dieser Abend bringen würde? Gwen lächelte, als sie zur Tür ging.
Adam Harcourt entdeckte Gwen Lockhart
sofort, als er die Arena betrat. Er blinzelte ein paarmal, weil er nicht
glauben konnte, was er sah. Diese kleine Hexe beging doch tatsächlich nach dem
Disaster im Theater eine weitere gefährliche Dummheit.
Sie trug
dieselbe zu enge Kleidung eines Dandys, die sie auch im Fallen Angel angehabt
hatte. Die Hose und die Ärmel des Rockes waren etwas zu lang, und die
flaschengrüne Jacke schloß sich zu eng über ihrer Brust.
Guter Gott,
glaubte sie denn wirklich, sie könnte die anderen täuschen? Jeder einigermaßen
wache Mann würde sofort erkennen, daß dieser knackige kleine Po, der sich
unter der Nankinghose abzeichnete, nur einer kessen Frau gehören konnte!
Adam
fluchte heftig. Er wünschte sich, er hätte sie nicht gesehen und hätte nicht
das Verlangen, ihr den biegsamen, hübschen Hals umzudrehen – oder sie in
irgendeine dunkle Ecke zu zerren und sie ausgiebig und leidenschaftlich zu
lieben. Gerade, als er sich dazu entschlossen hatte, sie in Ruhe zu lassen, als
er sich gesagt hatte, daß Gwen Lockhart nur eine naive Jungfrau war, die es
nicht
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