Stachel der Erinnerung
Ich bin
es gewöhnt, das zu bekommen, was ich haben will. Und wenn ich Euch drohen muß,
um Euch davon zu überzeugen, dann werde ich das tun. Kommt morgen zu mir – oder
der Graf wird von Euren kleinen Abenteuern erfahren.«
Gwens Brust
wurde eng. Es verlangte sie nach Adam Harcourt, sie liebte ihn vielleicht
sogar. Bis zu diesem Augenblick hatte sie ihm auf eine Weise vertraut wie noch
keinem Mann zuvor. Lieber Gott, wie hatte sie sich nur so sehr irren können?
»Ihr würdet
das wirklich tun?« flüsterte sie. »Ihr würdet wirklich zum Grafen gehen und ihm
alles erzählen?«
Ein
entschlossener Ausdruck trat in seine Augen. »Ich werde alles tun, was ich tun
muß, um Euch zu bekommen.«
Gwen biß
sich auf ihre zitternden Lippen, und Adams Gesichtsausdruck wurde etwas
versöhnlicher. »Kommt zu mir, mein Liebling. Wir wünschen es uns doch beide.
Ich verspreche Euch, es wird Euch nicht leid tun.«
Das
Mondlicht schien in die Kutsche und warf einen silbernen Schein auf sein
blauschwarzes Haar und auf seine hohen Wangenknochen. Gwen blinzelte, um ihre
Tränen zurückzu drängen, dann zwang sie sich zu einem Lächeln. »Natürlich
werde ich kommen ... ganz wie Ihr es wünscht. Wie Ihr schon sagtet, Mylord, ich
habe keine andere Wahl.«
Adam
runzelte die Stirn, als er hörte, wie förmlich sie ihre Worte wählte und mit
welch eigenartigem Ausdruck sie ihn ansah. Dann hielt die Kutsche in der Gasse
hinter ihrem Haus, und der Lakai öffnete die Tür.
»Bis
morgen«, flüsterte Adam und drückte einen Kuß auf ihren Handrücken. Bei dem zärtlichen
Blick in seinen Augen sehnte sich Gwens Herz nach dem Mann, für den sie ihn bis
jetzt gehalten hatte.
»Auf
Wiedersehen, Adam.« Lieber Gott, wenn er doch nur ein wenig geduldiger gewesen
wäre, wenn er sie gebeten hätte, anstatt ihr zu befehlen, wenn er ihre Wünsche
respektiert hätte und nicht nur seine eigenen, dann wäre sie früher oder später
zu ihm gekommen. Statt dessen hatte er ihr gedroht, hatte versucht, sie zu
zwingen, ihm zu gehorchen.
Genau wie
all die anderen Männer auch, die Gwen kannte.
Ein
bitteres Lächeln lag um ihren Mund, als sie sich durch den Schatten auf die
Rückseite des Hauses schlich und durch das Fenster kletterte, das sie
offengelassen hatte. Wie all die anderen Männer glaubte er, daß sie keine Wahl
hatte. Aber morgen abend würde Adam Harcourt, genau wie all die anderen
Männer, herausfinden, daß sie eine Wahl hatte.
Jessie rollte mit der Kutsche durch die
Straßen Londons. Doch die Aufregung, in der Stadt zu sein, war beträchtlich
geringer im Angesicht der Einsamkeit, die sie fühlte, seit Matthew nicht mehr
bei ihr war. Sie vermißte ihren Mann mit fast unerträglicher Sehnsucht und
fürchtete um seine Sicherheit. Jeden Tag konnte die Nachricht kommen, daß die
Schlacht begonnen hatte. Sie würde von den Opfern hören, die England an Menschen
und Material erleiden mußte, und die größte Angst war, daß Matthew unter den
Toten sein könnte.
Jeden Tag
könnte die Nachricht kommen, daß sie ihn verloren hatte.
Papa Reggie
machte sich ebenfalls Sorgen um ihn. Er schien um zehn Jahre gealtert zu sein,
seit sein Sohn Belmore verlassen hatte. Das war auch der Grund dafür, daß sie
zugestimmt hatte, nach London mitzukommen. In der Stadt könnte sich der Marquis
von Lady Bainbridge trösten lassen, und er hatte natürlich recht – die Tage
würden schneller vergehen, wenn sie mehr Zerstreuung hatte.
Auch Sarah
lenkte sie ab. Ihre Augen leuchteten vor Aufregung über ihre erste Reise in
die Stadt.
Und Gwen
war dort.
In ihrem
Stadthaus wartete bereits eine Nachricht von ihr auf Jessie. Gwen bat sie so
bald wie möglich um ihren Besuch. Es war ein eigenartiger Brief, und er hatte
eine seltsame Unruhe in Jessie geweckt. Deshalb hatte sie sich nur wenige Stunden
nach ihrer Ankunft auf den Weg zu Lord Warings Haus gemacht.
Auch wenn
es schon dämmrig wurde, so war sie doch losgefahren. Viola war mit Sarah
beschäftigt, und Minnie bügelte die Kleider, die in den Koffern zerdrückt
worden waren.
Sie war
nicht sicher, ob Gwen überhaupt zu Hause sein würde, da sie noch keine Zeit
gehabt hatte, sie von ihrer Ankunft zu unterrichten. Es war eigentlich nicht
höflich, einen unangemeldeten Besuch zu machen. Doch um so etwas hatte Gwen
sich noch nie geschert, und die Dringlichkeit ihrer Nachricht hatte Jessie
veranlaßt, die Regeln ein wenig aufzulockern.
Wenn sie
erst einmal Lord Warings Haus erreicht hatte, würde sie sich schon
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