Stachel der Erinnerung
etwas
einfallen lassen, um ihren unerwarteten Besuch zu erklären. Etwas, das nichts
mit Gwens geheimnisvoller Nachricht zu tun hatte.
Es war
schon fast dunkel, als die Kutsche vor dem Haus der Warings anhielt und der
Lakai die Tür der Kutsche öffnete. »Wir sind da, Mylady.«
»Danke,
Buckley.« Sie lächelte, als sie sich von ihm aus der Kutsche helfen ließ. »Ich
werde nicht lange bleiben.« Sie ging die Stufen hinauf zu der großen,
geschnitzten Tür und klopfte mit dem Messingklopfer dreimal an. Einen
Augenblick später wurde die Tür geöffnet, und der Butler mit seiner gewaltigen
Adlernase musterte sie hochmütig.
Sie kannte
diesen Blick. Ehe Belmore ihre Heimat geworden war, hatte sie ihn häufiger
gefühlt, als ihr lieb war. Das genau war der Zünder, den sie brauchte.
»Guten
Abend. Die Gräfin von Strickland wünscht Lady Gwendolyn zu besuchen.«
Hastig trat
er einen Schritt zurück. Mit einem Blick erfaßte er nun ihr elegantes
smaragdgrünes Seidenkleid und die modische Frisur, etwas, das ihm im Schein
der Lampe vor der Tür entgangen war.
»Entschuldigt,
Mylady. Lady Gwendolyn hat es versäumt zu erwähnen, daß Ihr erwartet werdet.«
Jessie
bedachte ihn mit einem kühlen Lächeln und schwebte an ihm vorbei ins Haus. »Das
überrascht mich nicht, ich kenne die liebe Gwen.«
Der Butler
nickte, als hätte sie ihm aus dem Herzen gesprochen. Er ging vor ihr her und
führte sie in den Salon, dann verließ er den Raum. Einige Augenblicke später
kam Gwendolyn die Treppe hinuntergerannt.
»Jessie!
Gott sei Dank bist du da!« Das Mädchen schlang die Arme um ihren Hals, und die
beiden drückten einander.
Jessie warf
ihr einen besorgten Blick zu, als sie ihrer Freundin in einen kleinen Salon
folgte und der Butler eilfertig die Tür hinter ihnen schloß.
»Also gut,
Gwen, sag mir, was geschehen ist.«
Zuerst
vermied es Gwen, sie anzusehen. »Das ist aber eine schöne Begrüßung. Du
solltest mir eigentlich zuerst mal alles aus deinem Eheleben berichten. Du
sollst mir erzählen, wie glücklich du mit Lord Strickland bist. Und dann erst
kannst du mir Fragen stellen.«
»Schön.«
Jessie setzte sich auf das mit Brokatstoff bezogene Sofa. »Ich genieße es, mit
Matthew verheiratet zu sein. Er ist ein wundervoller Ehemann, und ich liebe ihn
verzweifelt – doch leider liebt er mich nicht. Und was noch schlimmer ist, er
ist abgereist, um in irgendeiner blödsinnigen Schlacht zu kämpfen, und ich
sehe ihn vielleicht nie wieder.« Sie schluckte, um den dicken Kloß in ihrem
Hals wegzukriegen. »Also – jetzt bist du dran, verrate mir, was los ist.«
Gwen setzte
sich auf das Sofa neben Jessie. »Matthew wird zurückkommen, Jess. Du mußt ganz
fest daran glauben. Und du mußt auch glauben, daß er dich liebt. Kein Mann
stiehlt einem anderen die Braut, wenn er nicht wenigstens ein bißchen in sie
verliebt ist.«
Jessie
schüttelte den Kopf. Wie gern wollte sie glauben, was Gwen sagte. Aber wenn
Matthew sie liebte, dann hätte er ihr das doch sicher gesagt. »Sag mir, warum
deine Nachricht so merkwürdig dringend war.«
Gwen schloß
die grünen Augen, ihre dunklen Wimpern warfen einen Schatten auf ihre Wangen.
»Adam Harcourt«, war alles, was sie herausstieß.
»Oh, mein
Gott – doch nicht etwa St. Cere?«
»Ich habe
mich beinahe in ihn verliebt, Jess. Vielleicht habe ich es sogar getan, ein
bißchen.«
»Sag mir,
daß er dich nicht verführt hat.«
»Wenn er es
versucht hätte, wäre es ihm wohl auch gelungen.« Sie wischte sich eine Träne
von der Wange. »Statt dessen hat er mir gedroht. Er hat versucht, mich zu
zwingen, mit ihm zu schlafen.«
»Das
verstehe ich nicht. Wie konnte er dir denn drohen?«
Gwen
blickte auf ihre Hände, die sie im Schoß verschränkt hatte. »Er hat mich
gesehen, in der Nacht, als wir im Fallen Angel waren. Und gestern abend habe
ich mich wieder verkleidet, mit denselben Kleidungsstücken. Ich bin zu einem
Boxkampf nach Haymarket gegangen. Adam hat mich entdeckt. Und jetzt verlangt er
von mir, daß ich zu ihm kommen soll. Ich soll mich heute abend in seinem
Stadthaus mit ihm treffen. Und wenn ich das nicht tue, wird er Lord Waring
erzählen, was ich getan habe.«
»Gütiger
Himmel, das kann ich nicht glauben.«
»Leider ist
es die Wahrheit. Er glaubt wirklich, daß seine Drohungen zum Erfolg führen werden,
daß ich meinen Ruf aufs Spiel setze, damit er schweigt.« Sie lachte bitter.
»Das Komische daran ist, daß ich mir gewünscht habe, Adam würde mich
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