Stachel der Erinnerung
bitte ich dich ganz
einfach nur, deine Vorurteile beiseite zu schieben und Jessica so zu sehen, wie
ich es tue. Verbringe ein wenig Zeit mit ihr. Wenn dein Urlaub vorüber ist und
du sie immer noch nicht heiraten willst, werde ich dich nicht weiter drängen.«
Matthew
zögerte nur einen Augenblick, dann senkte er den Kopf und nickte zustimmend.
Sein Vater war krank, er wollte ihn nicht unnötig aufregen. Sicher könnte er
dieses Mädchen für ein paar Wochen ertragen.
»Wie du
wünschst, Vater.« Nach allem, was sie mit angehört hatte, fragte sich Matt, ob
Jessie bereit war, ihn zu ertragen.
Die
Morgendämmerung
brach grau und trübe an, genauso grau und trübe wie Jessies Stimmung. Ihre
Glieder waren schwer, sie fühlte sich steif und schwerfällig nach einer
ruhelosen Nacht. Hinter ihren Schläfen pochte ein leichter Schmerz. Sie hatte
nur wenige Stunden geschlafen. Die Worte des Kapitäns hatten sie verletzt und
zornig gemacht. Dennoch hatte sie schon zuvor genau gewußt, was er dachte.
Sie hätte
nicht lauschen dürfen. Sie hätte nach oben gehen sollen, wie sie es vorgehabt
hatte. Doch sie hatte gewußt, daß Papa Reggie etwas Schwerwiegendes auf dem
Herzen gehabt hatte, und sie war entschlossen gewesen, herauszufinden, was es
war.
Lieber Gott
– eine Ehe mit seinem Sohn, dem zukünftigen Grafen von Belmore! Es war
lächerlich und wirklich äußerst absurd.
Trotzdem
hatte ihr Herz zu rasen begonnen, in dem Augenblick, als sie diese Worte aus
seinem Mund gehört hatte. Er war der bestaussehende Mann, den sie je gesehen
hatte, das Bild eines strahlenden Helden in einer marineblauen Uniform. Als
die Mädchen in der Akademie von Mrs. Seymour über ihre Traummänner gesprochen
hatten, hatte sie sich dabei Matthew Seaton vorgestellt, sie hatte sogar
überlegt, wie es wohl sein würde, wenn er sie küßte.
Sie hatte
gewußt, daß es albern von ihr war, es waren die Träume eines dummen kleinen
Mädchens, doch wenn sie an ihn dachte, erwachte in ihrem Inneren eine zarte
Sehnsucht. Als sie dann erfuhr, daß er endlich nach Hause kommen sollte, hatte
sie nicht vermeiden können, daß ihre Hoffnungen in den Himmel schossen.
Immerhin hatte sie die letzten Jahre ausschließlich damit verbracht, beinahe
jeden Tag bis zur frühen Morgendämmerung zu lernen. Sie hatte sich in der
Schreibkunst geübt, bis ihre Finger schmerzten und sich an ihrem Mittelfinger
Blasen bildeten. Sie hatte ihre Lektionen in Französisch wiederholt, bis ihr
Kopf schwirrte und die Stimme versagte – und all das würde sich jetzt endlich
auszahlen, obwohl es das ja eigentlich sowieso schon getan hatte.
Wenn sie
daran dachte, wie verschieden sie von der wilden, schmutzigen kleinen
Unruhestifterin war, die der Kapitän früher gekannt hatte, gab es diesen einen
kurzen, süßen Augenblick, in dem sie sich erlaubte, an ihre kindischen Träume
zu glauben.
Jetzt
jedoch kannte sie die harte, bittere Wahrheit.
In der
letzten Nacht hatte sie nur geweint. Die brutalen Worte hatten sie bis ins
Innerste getroffen. Heute morgen aber war sie wieder gefaßt und wappnete sich
gegen das, was auf sie zukommen würde. Sie war Gott von Herzen dankbar für die
herrlichen Geschenke, die er ihr gemacht hatte. Sie wußte im Grunde, daß der
Kapitän mit dem, was er gesagt hatte, recht hatte. Er war ein Aristokrat, ein
Mitglied des Adels. Die Tochter einer Dirne war wohl kaum eine passende Heiratskandidatin
für einen Grafen.
Und
dennoch, selbst wenn sie hundert Jahre alt würde, seine grausamen Worte würde
sie niemals vergessen.
Sie suchte
in ihrem Schrank nach einem passenden Kleid und zog dann ein zitronengelbes
Morgenkleid hervor, weil sie hoffte, die fröhliche Farbe würde auch ihre Laune
aufhellen. Dann läutete sie nach der Kammerzofe, die ihr beim Anziehen helfen
sollte. Sie würde Viola nicht aufwecken. Die ältere Frau brauchte ihren Schlaf.
Außerdem wußte sie, daß es Vis klugem Blick nicht
entgangen wäre, wie schlimm sie heute morgen aussah.
Die
tränenreiche letzte Nacht genügte.
Heute war
sie entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie war glücklich hier bei
Papa Reggie, glücklicher als je zuvor in ihrem Leben. Sicher, es gab Zeiten, da
fühlte sie sich einsam, manchmal sogar isoliert, als wäre sie als
heranwachsende junge Frau in eine völlig andere Welt geboren worden als die, in
der sie zuvor gelebt hatte.
Doch gab es
auch Menschen, die von ihrer Tüchtigkeit abhängig waren, und sie war stolz
darauf, wie weit sie es gebracht
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