Stachel der Erinnerung
roter Brokatseide, das sie am Stand
eines Stoffhändlers bewundert hatte.
»Du hast
mir schon viel zuviel geschenkt«, protestierte Jessie. »Ich habe einen ganzen
Schrank voll wunderschöner Kleider – ich brauche das nicht auch noch.«
»Aber es
gefällt dir doch, oder?«
»Es ist
wunderschön, aber du mußt es nicht ...«
»Laßt ihn
doch«, mischte sich Matthew mit einem Lächeln in die Unterhaltung ein. »Es
macht ihm Spaß, Euch zu verwöhnen.«
Reggie
lächelte breit. »Hör auf den Jungen, meine Liebe. Endlich einmal hat er recht.«
Jessica
lachte und drückte die Hand des Marquis. »Danke«, sagte sie leise, und ihr
entging nicht, wie Matthews Gesichtsausdruck sich veränderte und seine blauen
Augen ein wenig dunkler wurden.
Sie blieben
stehen, um einer Gruppe Akrobaten zuzusehen, die mit gewagten Saltos einander
von den Schultern sprangen. Dann gingen sie in eine Jahrmarktsbude, in der
Jessie einen echten afrikanischen Eingeborenen zu Gesicht bekam. Er trug einen
Knochen durch die Nase und Muscheln in den Ohren. Dazu hielt er einen tödlich
aussehenden Speer in der Hand, den er gegen die Menschenmenge schüttelte.
Jessie hatte noch nie in ihrem Leben einen Menschen gesehen, der so
furchterregend wirkte.
Bei diesem
Gedanken mußte sie ein Glucksen unterdrücken. Wahrscheinlich bis auf Matthew
Seaton, an dem Tag, an dem er ihr den Po versohlt hatte.
Sie
verließen die Bude und traten in den Sonnenschein.
»Oh, Papa
Reggie. Ich habe einen solchen Spaß. Danke, daß du mich hierher gebracht hast.«
»Unsinn«,
wehrte er brummig ab. »Ich war doch derjenige, der hierherkommen wollte. Ich
bin nur froh, daß du mit mir gekommen bist.« Sein Gesicht unter dem
schneeweißen Haar hatte sich leicht gerötet, und als Jessie ihn jetzt ansah,
begann sie sich Sorgen um ihn zu machen.
»Doch
leider«, sprach er weiter und bestätigte sie in ihrer Sorge, »bin ich nicht
mehr so jung, wie ich einmal war. Meine Gicht macht sich wieder bemerkbar. Ihr
beide werdet mich entschuldigen müssen, ich werde zum Sword and Angel zurückfahren.«
Der Marquis hatte für sie Zimmer in dem bekannten Gasthaus im Außenbezirk der
Stadt bestellt, in dem sie auch schon die vergangene Nacht verbracht hatten.
Jessie
nickte und nahm seinen Arm. »Ich finde, das ist eine sehr gute Idee.«
»Einverstanden«,
stimmte auch Matthew zu.
Der alte
Mann entzog ihr seinen Arm. »Was habt ihr beiden vor?«
»Wir kommen
natürlich mit dir«, erklärte Jessica.
»Seid nicht
albern. Ihr seid beide jung und gesund. Ihr solltet hierbleiben und den
Jahrmarkt genießen. Matthew kann dich zum Gasthaus zurückbringen, wenn ihr
alles gesehen habt.«
»Oh, nein,
wir können ganz unmöglich ...
»Ist es
nicht so, mein Junge?«
Lord
Strickland nahm ihre Hand und beugte sich ritterlich darüber. »Mein Vater hat
recht, Miss Fox. Der Tag ist noch lange nicht vorüber, und Ihr habt noch längst
nicht alles gesehen.«
»Aber was
ist mit Papa Reggie?«
»Im
Gasthaus warten mindestens ein halbes Dutzend Leute aus Belmore. Die Lakaien
werden ihn sicher dorthin geleiten, und sein Kammerdiener kann ihn in seinem
Zimmer betreuen.«
Er sah den
Marquis an. »So hast du es doch vorgehabt, nicht wahr, Vater?«
»Genauso,
mein Junge, genauso.« Er beugte sich zu Jessica und gab ihr einen Kuß auf die
Wange. »Amüsiere dich gut, Kind. Ich sehe euch beide dann heute abend.«
Jessie
nickte. Selbst das leise Schuldgefühl, das sie hatte, weil sie ihn allein ins Gasthaus
zurückfahren ließ, konnte nicht die Aufregung dämpfen, auf einem Jahrmarkt zu
sein.
»Ich bringe
meinen Vater zur Kutsche«, sagte Matthew »Wartet hier auf mich, vor dem Stand
des Küfers. Ich bin gleich wieder da.«
»Gut.« Sie
blickte zu der Bude nebenan, wo einige Jungen darum kämpften, wer von ihnen am
schnellsten Pudding essen konnte. Dem Gewinner winkte ein Preis.
»Und geht
nicht fort«, befahl ihr Matt, der ein paar Schritte von ihr fortgegangen war
und sich noch einmal umdrehte. »In diesem Getümmel werde ich Euch sonst nicht
mehr wiederfinden.«
Sie nickte
nur und beobachtete, wie die beiden sich langsam durch die Menge schoben. Sie
sah, wie der Marquis noch einmal die
Hand hob und ihr zuwinkte, dann wurden die beiden Männer von der Menschenmasse
verschluckt. Jessie machte ein paar Schritte auf die Bude zu, in der die Jungen
über ihren Schüsseln mit dampfendem Haferbrei saßen, der mit Milch verdünnt
und mit Zucker und Butter gewürzt war. Sie schaufelten die Portionen in
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