Stachel der Erinnerung
Abendessen getroffen. Und
jedesmal war die Atmosphäre kühl und förmlich. Manchmal sah es fast so aus, als
sei Jessica regelrecht feindselig. Matthew ignorierte sie so sehr, daß es
schon unhöflich war.
Reginald
lächelte innerlich. Er sah darin ein sehr gutes Zeichen.
Jetzt
richtete er seine Aufmerksamkeit auf seinen Sohn, der auf seinen Teller
blickte, als verlange dieser seine höchste Aufmerksamkeit. »Wie schmeckt dir
das Wild, Matthew?« fragte er.
»Sehr gut,
Vater.«
»Und das
Rebhuhn, Jessica?«
»Köstlich,
Papa Reggie. Das Essen ist sehr lecker.«
»Es freut
mich, wenn es euch schmeckt. Morgen werden wir wesentlich bescheidener
speisen.«
»Warum?«
platzten beide wie aus einem Mund heraus. Matthew sah mürrisch aus, und
Jessicas blonde Augenbrauen zogen sich hoch. Und beide fragten gleichzeitig:
»Fahren wir irgendwohin ...?« Jessica wurde über und über rot, Matthews Augen
blitzten belustigt, etwas, das in den letzten Tagen nur selten geschah.
»Nach Euch,
Miss Fox«, meinte er, und seine Augen blitzten noch immer.
»Nach Euch,
Mylord. Ich bin sicher, was auch immer Ihr zu sagen habt, ist weitaus
bedeutender als alles, was ich je überhaupt nur denken könnte.« Sie reckte
kampflustig das Kinn.
Matt
betrachtete sie kurz, dann wandte er sich seinem Vater zu. »Werden wir
irgendwohin fahren, Vater?«
»Genau das
werden wir, mein Junge. In Eylesbury gibt es einen Jahrmarkt. Ich bin schon
seit Jahren auf keinem mehr gewesen. Ich würde gern noch einmal hingehen, ehe
ich zu alt dafür bin. Und ich möchte gern, daß ihr beiden mich begleitet.«
Matthew
runzelte die Stirn. »Ich würde wirklich gern mitkommen, Vater, aber ich
fürchte, ich habe bereits andere Pläne gemacht.«
»Ja, ich
habe gesehen, daß der Lakai von Miss Winston ihre Visitenkarte abgegeben hat.
Ich nehme an, sie wohnt jetzt wieder in Winston House.«
»Ja. Und da
ich ihr bereits versprochen habe, sie zu besuchen, wäre es sehr unhöflich, wenn
ich den Besuch wieder absagen würde.«
»Es wäre
auch sehr unhöflich, wenn du deine Vereinbarung mit mir brechen würdest. Ich
denke, wir waren doch zu einer Übereinkunft gekommen. Oder sollte ich mich
geirrt haben?«
Leichte
Röte kroch in Matts gebräunte Wangen. Stolz und Ehre waren die Worte, die den
Helmschmuck von Belmore zierten. Matthew lebte danach, mehr als jeder andere
Mann, den Reginald jemals gekannt hatte.
Sein Sohn
nickte knapp. »Ich werde Lady Caroline eine Botschaft schicken.« Er lächelte
gequält. »Morgen fahren wir zum Jahrmarkt.«
Jessica
versuchte, sich zu beherrschen. Doch dann erhellte ein begeistertes Lächeln ihr
Gesicht. »Ein Jahrmarkt! Ich bin noch nie auf einem Jahrmarkt gewesen, aber ich
wollte immer so gerne einen erleben.«
»Noch nie?«
fragte Matt ungläubig. »Sicher habt Ihr doch schon einmal ...«
Sie
schüttelte den Kopf. »Es war immer eine zu weite Reise, oder es ist sonst etwas
dazwischengekommen. Später war Mutter dann krank, und ich mußte sie versorgen.
Nachdem sie gestorben war, hatten wir kein Geld mehr für so etwas.« Ein
dunkler Schatten fiel bei dieser Erinnerung über ihr Gesicht, doch gleich war
er wieder verschwunden und wurde ersetzt von ihrem bezaubernden, sehnsüchtigen
Lächeln. »Ich habe so viele Geschichten gehört von all den wundervollen Sachen,
die es dort gibt. Mein Bruder hatte einen Freund, Dibble hieß er, der niemals
einen Jahrmarkt ausließ. Er sagte, das sei ein Ort, der voll ist mit Stutzern
und Edelleuten, deren Taschen so prall mit Geld sind, daß es sich lohnt, sie zu
erleichtern. Er sagte, er könne einem Kerl die Börse aus der Tasche ziehen und
dann in der Menschenmenge verschwinden, ehe der Tölpel überhaupt gemerkt hätte,
was ihm passiert war.«
Reggie
stöhnte innerlich auf. Das Mädchen hatte sich nicht ein einziges Mal im Ton
vergriffen, seit es aus der Schule zurückgekehrt war. Sie hatte ihm einmal
erzählt, daß sie sich nicht einmal mehr erlaubte, in der Sprache zu träumen,
mit der sie groß geworden war.
Es war die
Anspannung, die sie in Matthews Gegenwart fühlte, das wußte er. Sein
überanständiger Sohn würde kein Verständnis für den entsetzten Blick von
Jessica haben. Es war ihm völlig gleichgültig, daß ihre Wangen kreidebleich
geworden waren, daß in ihren lieblichen blauen Augen jetzt die Tränen glänzten.
Er würde sich nur in seinem Urteil bestätigt fühlen, wie wenig sie doch
zusammenpaßten und daß sie wohl kaum eine würdige Frau für einen
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