Stachel der Erinnerung
zukünftigen
Marquis von Belmore abgab.
»Entschuldigung«,
flüsterte Jessie und schob ihren Stuhl zurück. »Ich glaube, das Rebhuhn ist mir
doch nicht so gut bekommen.«
»Jessica«,
begann Reggie, sein müdes altes Herz schmerzte, als er ihre Verzweiflung sah.
Doch es war Matthew, der nach ihrer Hand griff und sie festhielt, ehe Jessica
weglaufen konnte.
»Geht
nicht«, bat er leise. »Es gibt nichts, wofür Ihr Euch schämen müßt. Niemand von
uns ist perfekt, wie sehr wir es auch versuchen mögen.« Er lächelte sie
liebevoll an. »Ihr habt in vier Jahren mehr gelernt als die meisten Menschen in
ihrem ganzen Leben. Ihr solltet stolz sein auf das, was Ihr erreicht habt, auch
wenn Ihr nicht immer vollkommen seid.«
Eine Träne
rann über ihre Wange. Mit dem Handrücken wischte sie sie ab.
»Bleib,
meine Liebe«, drängte jetzt auch Reginald leise. »Matthew hat recht ... und wir
müssen doch noch Pläne machen für morgen.«
Langsam
sank sie wieder auf ihren Stuhl zurück, doch sie blieb angespannt auf der
Stuhlkante sitzen, als habe sie die Absicht, bei der nächsten Gelegenheit
wegzulaufen.
Matthew
erzählte von einem großen Jahrmarkt, den er einmal auf dem Angel Hill in Bury
St. Edmunds besucht hatte. Er unterhielt sie mit Geschichten seiner
Mißgeschicke, bis sie endlich wieder lächelte. Jetzt sah sie ihn in einem
anderen Licht als zuvor, so,
wie sie ihn sich vorgestellt hatte, wenn Reggie ihr von seinem Sohn erzählte.
Als wäre er
ein Held.
Was Matthew
wohl kaum war. Der Ausdruck reiner Lust in den blauen Augen seines Sohnes
signalisierte das, was er wirklich dachte.
Verflixt
und zugenäht! Er wollte, daß diese beiden ein Paar wurden. Doch das Risiko war
immens. Schließlich wollte er auf keinen Fall, daß Jessica verletzt wurde, In
den meisten Jahren ihres Lebens war sie geschlagen worden. Sie hatte
gehungert, im Schmutz gelebt und war gezwungen gewesen, auf der Straße zu
überleben. Sie hatte es nicht verdient, womöglich den Rest ihres Lebens unter
der Überheblichkeit seines Sohnes zu leiden. Matthew verlangte es nach Jessica,
doch nicht genug, um sie auch zu heiraten. Das war eine gefährliche Situation.
Reginald
seufzte. Das Wagnis war groß.
Doch sein
Sohn war ein ehrenwerter Mann, und die Möglichkeit, ihm ein glückliches Leben
zu ermöglichen, war es wert, selbst das gefährlichste Risiko einzugehen.
Er würde
den Weg weitergehen, den er gewählt hatte.
5
Der
Jahrmarkt in
Eylesbury war nicht so groß wie manch anderer. Vor Jahren hatte er als
normaler Markt begonnen, hatte Papa Reggie Jessica erzählt, dann war er zu
einer Handelsmesse geworden, die den Ladenbesitzern erlaubte, ihre Lager für
den Rest des Jahres aufzufüllen.
Mit der
Zeit hatte sich diese Messe immer weiter ausgedehnt. Einige Shows waren
dazugekommen, Karussells, Buden zur Unterhaltung der Besucher und noch
unzählige andere Dinge, die jedes Jahr die Anziehungskraft des Jahrmarktes verstärkten.
»Und
schließlich wurde der Markt aus der Stadt heraus ver lagert, außerhalb der Stadtgrenzen«,
erzählte der Marquis. »Dorthin, wo auch der Viehmarkt stattfand, wo Rinder,
Schafe und Pferde verkauft wurden.«
Der Platz,
auf dem der Jahrmarkt jetzt stattfand, war laut und quirlig. Im Schein der
warmen Morgensonne wimmelte es schon von Menschen. Hölzerne Gitter trennten den
Platz ab, damit weder der Verkehr noch die Tiere oder Pferde mit ihren Karren
in die Menschenmenge gerieten. An einem Ende des Platzes waren feste Buden
errichtet worden, in denen Metzger, Fischverkäufer, Töpfer und Stellmacher ihre
Waren verkauften.
Um sie
herum drängten sich die verschiedensten Menschen, vom reichen Ladenbesitzer bis
zum Bettler, Gastwirte und Schweineverkäufer, Orangenverkäuferinnen und
Schulmeister, Edelleute und Mitglieder der Aristokratie. Alle zusammen freuten
sich über die köstlichen Gerüche, Farben und Geräusche des Jahrmarktes.
»Sieh mal,
Papa Reggie! Ein Marionettentheater!« Jessie zog ihn mit sich. Selbst Matthew
lächelte gönnerhaft und folgte den beiden. Vom Rand der Menschenmenge aus sahen
sie zu, und Jessie lachte wie ein Kind über die Späße des Puppenspielers, der
an den Schnüren zog. Die Puppen zogen gehorsam die Augenbrauen hoch und hoben
die Hand, um der Menschenmenge zuzuwinken.
Später
schlenderten sie an den Buden vorbei. Papa Reggie blieb ab und zu stehen und
kaufte etwas, das Jessie besonders gefiel, ein buntes, gewebtes Armband, eine
hübsche Muschel, ein wunderschönes Stück
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