Stachel der Erinnerung
ihren
Mund, so schnell sie konnten.
Lächelnd
beobachtete Jessie sie, sie wußte nur zu gut, wie sehnlich sich jeder von ihnen
den Preis wünschte, den er gewinnen würde, wenn er den meisten Brei in sich
hineinstopfte.
»Nun küß
mir den Allerwertesten! Ist das nicht meine so lange verloren geglaubte
Schwester?«
Jessies
Magen zog sich zusammen. Beim Klang dieser ihr so wohlbekannten Stimme wirbelte
sie herum. »Danny.« Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken, und sie
begann zu zittern. »Was ... was tust du hier?« Neben ihm entdeckte sie den
großen, dürren Connie Dibble und einen kleinen, untersetzten Mann mit
sandfarbenem Haar, den sie nicht kannte.
»Na, was
glaubst du, was wir hier tun, Schätzchen? Ich und Connie und Theo sind extra
zum Jahrmarkt hierhergekommen, genau wie du.« Danny Fox war vier Jahre älter
als Jessie. Er sah recht gut aus, war mittelgroß und hatte hellbraunes Haar und
braune Augen. Es war der Blick dieser Augen, diese harte, eisige Kälte, die
verriet, was für ein Mann er war.
»Danny hat
recht, Jess«, mischte sich jetzt auch Dibble ein. »Du findest nirgendwo sonst
außerhalb von London eine so reiche Beute.«
Jessie sah
sich schnell um, mit jedem Augenblick schlug ihr Herz schneller. Gott sei Dank,
Matthew war nirgendwo zu sehen.
»Du hältst
wohl Ausschau nach deinem hübschen Kapitän zur See, wie, Schätzchen?« Ihr
Halbbruder lachte – und dieses Lachen jagte ihr einen weiteren Schauer über den
Rücken. »Ich habe dich mit ihm gesehen. Hast du etwa geglaubt, ich hätte
vergessen, wer er ist? Das ist nicht anzunehmen.»Er rieb mit einem Finger
über seine leicht buckelige Nase. »Dieser Schuft hat mir meine verdammte Nase
gebrochen.«
Jessie
erstarrte. »Was hast du denn erwartet – immerhin hast du versucht, ihm seine
Börse zu stehlen.«
Er hörte
ihr überhaupt nicht zu, sondern streckte die Hand aus und strich über den Stoff
ihres rosafarbenen Kleides. »Du kleidest dich ziemlich elegant ... für eine
Dirne.«
Jessies
Magen hob sich, alles Blut schien aus ihrem Kopf zu weichen. Danny war schon
immer grausam gewesen. Als sie noch klein war, hatte er sie gnadenlos
verprügelt, wenn ihm der Sinn danach stand.
»Ich bin
keine Dirne.«
Er lachte
noch einmal, kalt und geringschätzig. »Nenne es, wie du willst, Schätzchen. Du
bist nichts anderes als das, was du früher warst. Nur, weil dein tölpelhafter
Geliebter mehr Geld in seiner verdammten Tasche hat, macht das noch lange
keinen Unterschied.«
»Er ist
nicht mein Geliebter.«
Danny
packte ihren Arm und rüttelte sie. »Lüg mich nicht an, Mädchen. Ich habe
gesehen, wie er dich angeschaut hat. Der Mann würde am liebsten gleich hier
über dich herfallen, in einer dieser Buden.« Er strich sanft über ihre Wange,
seine Finger waren kalt und ein wenig feucht, es waren nicht die rauhen Finger
eines hart arbeitenden Mannes.
Der
untersetzte Mann hinter Danny schob sich nach vorn. »Wieviel willst du für sie
haben, Danny?« Er blickte über seine Schulter zu einem schmalen Weg, der
zwischen den Buden hindurchführte. »Meine Münzen sind genausogut wie die
seinen, und mein Ding regt sich, wenn ich sie nur anschaue.«
Jessie
versuchte, sich aus dem Griff ihres Bruders zu befreien, doch er umklammerte
sie nur noch fester, und ein heftiger Schmerz fuhr durch ihren Arm. »Laß mich
los, Danny.«
»Du glaubst
wohl, du bist besser als wir, wie? Mit all deinen feinen Worten und den
eleganten Kleidern. Du bist noch immer eine Dirne, Missy. Nichts, was du tust,
wird etwas an dem Leben ändern, in das du hineingeboren wurdest.«
»Ich bin
keine Dirne. Und ich war auch nie eine. Du warst nicht einmal da, als Mama
gestorben ist. Du warst viel zu sehr damit
beschäftigt, dem dreibeinigen Monster zu entkommen und dafür zu sorgen, daß man
dich nicht nach Newgate brachte.«
Bei Jessies
Erwähnung des Galgens lief Dannys Gesicht rot an. Unter seinem Auge pulsierte
eine kleine Ader. Er kniff sie in die Wange. »Du willst sie haben, Theo?«
fragte er den untersetzten Mann.
»Oh, ja,
Danny, sehr sogar.«
»Gib mir
die Börse, die du gerade geklaut hast, dann gehört sie dir. Es wird ihr guttun,
wenn sie mal ordentlich rangenommen wird.«
Ein Blick
in Theos lüsternes Gesicht genügte, um Jessica endgültig Angst einzujagen.
»Ich werde schreien«, drohte sie. »Ich werde so laut schreien, daß ein Polizist
kommt!«
»Nein, das
wirst du nicht.« Danny drehte ihr den Arm auf den Rücken. »Denn dann wird
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