Stachel der Erinnerung
Bastard auf Euch
gesehen habe? Ich wollte ihn umbringen. Als er Euch berührte, hätte ich ihn
mit meinen nackten Händen auseinanderreißen mögen.«
Er führte
die Hand an ihren Hinterkopf und drückte ihre Wange an seine Brust. Sanft
streichelte er ihr Haar. Sie fühlte, wie schnell sein Herz schlug.
»Es tut mir
so leid«, flüsterte sie.
»Es tut
Euch leid?« Er hob ihr Gesicht mit einem Finger hoch, damit sie ihn ansah.
»Dieser Hurensohn hat Euch fast vergewaltigt, und Euch tut es leid?«
Sie stöhnte
leise, und dann versagten ihr die Beine den Dienst. Matthew stieß einen
heftigen Fluch aus und fing sie auf. Er sagte nichts, als er mit ihr auf dem
Arm aus dem Schatten trat und sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte.
Mit langen Schritten lief er zur Kutsche. Jessie schloß die Augen und drehte
das Gesicht weg vor den neugierigen Blicken der Leute.
»Ich kann
es nicht glauben, daß Ihr ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt habt«, sagte
er, während er sich durch die Menge schob.
Jessie
leckte sich über die Lippen. »Ich bin ...«
»Ich weiß –
es tut Euch leid.«
Sie
lächelte schwach bei seinen Worten. »Nein ... nein, es tut mir nicht leid, daß
ich ihn geschlagen habe.«
Ein tiefes
Brummen kam aus seiner Kehle. »Kleine Hexe«, schalt er sie leise, doch sie
fühlte, daß sein Zorn langsam verflog. Langsam wurde ihr klar, daß er nicht
auf das zornig gewesen war, was sie getan hatte, nein, er hatte sich Sorgen um
sie gemacht. Matthew hatte sich Sorgen um sie gemacht, um Jessie Fox.
Warme
Erregung erfaßte sie und ließ sie schwindelig werden. Vorsichtig, damit ihr
Mieder sich nicht wieder öffnete, schlang sie einen Arm um seinen Hals und barg
ihren Kopf an seiner Schulter.
»Ich hätte
vorsichtiger sein müssen«, wisperte sie, als sie um die Ecke bogen, an der die
Kutsche wartete.
»Ich bin
derjenige, der vorsichtiger hätte sein sollen«, widersprach er
ihr. »Ich hätte mir denken können, daß so etwas geschehen würde.« Doch Matthew
konnte man wohl kaum einen Vorwurf machen. Ihr Bruder war schuld an der ganzen
Sache, und wenn der Kapitän ihn mit dem Leben hatte davonkommen lassen, würde
er sicher irgendwann wieder auftauchen.
Jessie
erbebte bei diesem Gedanken. Matthew mußte es gefühlt haben, denn er hielt sie
noch fester. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte ein Mann sie in seinen Armen
gehalten, nicht einmal Papa Reggie. Im Schankraum hatten die Männer ihr derbe
Klapse auf den Po gegeben und versucht, ihre Brüste zu betatschen. Ihr Bruder
hatte sie windelweich geprügelt und ihr einmal sogar ein blaues Auge verpaßt.
Doch noch
nie hatte ein Mann sie beschützend in seinen Armen gehalten.
Jessie
schmiegte sich noch enger an ihn, tief atmete sie den Duft nach Männlichkeit
ein. Sie spürte seine kräftigen Muskeln, wenn er sich bewegte. In seinen Armen
fühlte sie sich sicher vor der ganzen feindlichen Welt. Ihre Brüste drückten
gegen seinen Arm, und sie empfand als Antwort darauf ein Flattern in ihrem
Magen. Etwas Ähnliches war mit ihr geschehen, als er sie geküßt hatte, doch da
war ihr merkwürdig heiß gewesen, und sie hatte sogar ein wenig Angst gehabt.
Heute fürchtete sie sich nicht. Sie wollte nur für alle Zeiten so behütet in
seinen Armen liegen.
Schließlich
erreichten sie die Kutsche, und Matthew setzte sie vorsichtig hinein. Er
schlang ihr eine Decke um, dann setzte er sich neben sie und lehnte sich in die
Polster zurück. Jetzt blickten seine blauen Augen wieder ernst und abweisend,
sein Gesicht war streng.
»Ihr werdet
nichts davon meinem Vater sagen. Ich möchte nicht, daß er sich unnötig
aufregt.«
»Nein«,
stimmte sie ihm zu. »Papa Reggie darf das nicht erfahren.« Doch das gleiche
konnte wieder geschehen, das wußten sie beide. Sie war Jessie Fox, nicht etwa
die Tochter von Simon Fox, dem entfernten, verstorbenen Cousin des Marquis,
seinem langjährigen Freund. Das war die Geschichte, die Papa Reggie sich
ausgedacht hatte, ehe er sie in die Schule geschickt hatte.
Ihr Bruder
kannte die Wahrheit und die anderen auch. Wenn nur ein kleiner Ausrutscher, ein
Vorfall wie dieser heute, noch einmal passieren würde, wäre der Name der
Belmores ruiniert. Vierhundert Jahre Stolz und Ehre wären dann in den Schmutz
gezogen – durch sie.
Jessie tat
das Herz weh. Lieber Gott, bis heute hatte sie nicht geahnt, wie entschlossen
sie war, ihr früheres Leben auszulöschen.
6
Lady Caroline Winston stieg vor Belmore
Hall aus ihrer Kutsche. Ihre Zofe Emma
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