Stachel der Erinnerung
schwer.
Sie dachte daran, in welcher Aufmachung er sie am ersten Tag gesehen hatte, in
der zerlumpten Männerkleidung, über und über voll mit Lehm, mit ihren nassen
Haaren, die an ihrem Kopf klebten. Sie dachte an den Jahrmarkt, als sie
halbnackt auf dem Boden gekämpft hatte wie eine Wildkatze.
Lieber
Gott, solange sie sich erinnern konnte, hatte sie sich gewünscht, eine Lady zu
sein. Sie hätte alles getan – wirklich alles, um einem Leben aus Armut und
Gewalt zu entfliehen. Oberflächlich
gesehen war es ihr gelungen. Sie kleidete sich wie eine Lady, sie sprach wie
eine Lady. Sie las die Klassiker und konnte sogar einige Stücke auf dem Klavier
spielen.
Sie blickte
zu dem Paar im Garten, sah, wie Matthew eine wunderschöne Rose pflückte und sie
Lady Caroline reichte. All die Stunden des Lernens, all die vielen Tage, in denen
sie mit einem Stock im Rücken gegangen war, um die richtige Haltung zu
bekommen, all die vielen Gedichte, die sie auswendig gelernt hatte, ihre
perfekte Betonung der französischen Sprache – nichts davon konnte sie in
Wirklichkeit zu einer Lady machen.
Lady
Caroline legte die behandschuhte Hand auf den Arm von Matthew und ging mit ihm
hinüber zum Gewächshaus. Jessie hatte ihn noch nie so glücklich gesehen, so
äußerst zufrieden.
Sie dachte
wieder daran, wie er sie auf dem Jahrmarkt gerettet hatte, wie sicher sie sich
in seinen Armen gefühlt hatte. Sie erinnerte sich an den Tag, als er sie in der
alten Remise geküßt hatte. Wenn er sich danach sehnte, Lady Caroline zu
heiraten, warum hatte er sie dann geküßt?
Jessie sank
auf ihr Bett. Sie wußte genug von den Männern, um die Antwort auf ihre Frage zu
kennen – gütiger Himmel, immerhin war sie in einem Dirnenhaus aufgewachsen.
Das Verlangen eines Mannes nach einer Frau hatte nichts mit der Ehe zu tun –
wenigstens nicht, wenn es um eine Frau wie Jessica Fox ging. Matthew begehrte
sie vielleicht, aber heiraten würde er Caroline Winston.
Es war eine
harte, brutale Tatsache, und bei dem Gedanken daran verspürte Jessie einen
dicken Kloß in ihrem Hals. Die bittere Wahrheit blieb – Matthew Seaton würde
niemals ihr gehören.
Es sei
denn, Papa Reggie würde ihn dazu zwingen, sie zu heiraten.
Einen
kurzen, äußerst selbstsüchtigen Augenblick lang wünschte sie sich, daß er das
tun würde. Es wäre möglich, das wußte sie. Papa Reggie war ein Mann, der es
gewohnt war, seinen Willen zu bekommen, und es war offensichtlich, daß er
wollte, daß sein Sohn dieser Eheschließung zustimmte. Der Marquis war
leidend, und Matthew sorgte sich sehr um ihn. Papa Reggie würde genau wissen,
was er zu tun hatte, um seinem Sohn seinen Willen aufzuzwingen. Vielleicht
würde Matthew ja doch eines Tages ihr gehören.
Bei diesem
Gedanken bildete sich ein Knoten in ihrem Magen.
In Wahrheit
war es doch so, sollte Matthew sich schließlich den Wünschen seines Vaters
beugen und sie heiraten, dann würde er sie dafür verachten, eventuell sogar
hassen, weil sie das Leben, das er für sich geplant hatte, zerstörte. Sie war
keine Lady wie Caroline Winston, doch Jessie Fox besaß Stolz. Von Matthew
Seaton hatte sie allerdings schon geträumt, solange sie denken konnte.
Aber sie
wollte keinen Mann, der sie ablehnte. Und ganz sicher verlangte es sie nicht
so sehr nach ihm, daß sie bereit war, ihrer beider Leben zu zerstören.
Matthew und
Caroline kamen aus dem Garten zurück, und Matthew half Caroline in ihre
Kutsche. Zum Abschied gab er ihr einen Kuß auf die Wange. Einen einfachen,
keuschen, höflichen Kuß, so ganz anders als der leidenschaftliche, verzehrende
Kuß, den er Jessie Fox gegeben hatte. Er würde sich bei Caroline Winston
niemals solche Freiheiten herausnehmen, doch bei der Tochter von Eliza Fox war
das etwas anderes ...
Das Herz
tat Jessie weh bei diesem Gedanken, doch machte es sie gleichzeitig auch wütend
auf Matthew. Dabei war das nicht einmal sein Fehler. Die Welt war nun mal so, und
es gab nichts, was man daran ändern konnte.
Im übrigen
brauchte sie Matthew Seaton nicht. Sie brauchte niemanden außer Papa Reggie.
Sie war glücklich gewesen in Belmore, ehe Matthew angekommen war. Wenn er
wieder abgereist war, würde sie auch wieder glücklich sein können. Sie würde
mit dem Marquis reden, beschloß sie, sie würde ihn davon überzeugen, seinen
Sohn heiraten zu lassen, wen er wollte. Es war eine schmerzliche Entscheidung.
Ihr Herz war schwer wie Blei, und Tränen brannten in ihren Augen. Doch es war
die richtige
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