Stachel der Erinnerung
Belmore ruiniert. Ich werde nicht zulassen,
daß du dieses Risiko eingehst.«
Der Marquis
sah sie mit strengem Blick an. »Ich fürchte, meine Liebe, in dieser
Angelegenheit hast du nur sehr wenig zu sagen. Ich bin dein gesetzlicher
Vormund. Bis du großjährig bist, ist es meine Entscheidung, was du tust und was
nicht. In dieser Angelegenheit wirst du genau das tun, was ich dir sage.«
Jessies
Augen weiteten sich erschrocken. Er hatte nur bei seltenen Anlässen mit ihr in
diesem Ton gesprochen. Doch wann immer er es getan hatte, hatte Jessie keinen
Zweifel daran gehabt, von wem Matthew seine bestimmende Art geerbt hatte.
»Jawohl,
Papa Reggie«, gab sie verdattert nach und sank wieder auf ihren Stuhl.
»Das
Mädchen hat wirklich recht«, mischte sich jetzt Matthew ein und überraschte sie
mit seinen Worten. »Du kannst ganz unmöglich versuchen, sie der Gesellschaft
als ein Mitglied der Aristokratie vorzustellen.«
Der Marquis
hob den Kopf, sein Gesicht glühte zornig unter der Mähne seines schneeweißen
Haares. »Sieh sie dir doch an, Matthew! Sieh sie dir gründlich an. Kannst du
wirklich so blind sein?«
Matthew biß
die Zähne zusammen.
»Dieses
Mädchen ist unvergleichlich. Du bist der einzige, der das nicht zu begreifen
scheint. Ich versichere dir, dem Rest der Gesellschaft wird das nicht
schwerfallen.« Der alte Mann sah seinen Sohn noch einen Augenblick lang
eindringlich an, dann sank er in die Kissen zurück.
»Vater!«
Matthew lief zu ihm.
»Papa
Reggie!« Jessie war von ihrem Stuhl aufgesprungen. »Geht es dir gut?«
Der Marquis
atmete pfeifend aus. Sein Gesicht war gerötet, und sein Herz schlug zu schnell.
»Das ist wahrscheinlich nur die Aufregung. Wenn ihr beide nichts dagegen habt,
würde ich mich gern einen Augenblick ausruhen.«
»Natürlich.«
Matt sah ihn besorgt an. Jessie nickte nur, sie fühlte sich entsetzlich, weil
sie der Grund seines Schwächeanfalls gewesen war.
»Inzwischen«,
sprach der Marquis weiter, »kannst du damit beginnen, deine Sachen
vorzubereiten, Matthew. Ich erwarte, daß du uns begleitest. Es dauert noch
einige Wochen, bis dein Urlaub zu Ende ist. Jessica und ich werden deine
Unterstützung brauchen.«
Matthew
antwortete nicht, er nickte nur.
»Ich werde
eine Nachricht zu unserem Stadthaus schicken, daß man sich dort auf unseren
Besuch vorbereitet. Wir werden übermorgen nach London reisen.«
Matthew lehnte sich auf dem mit Samt
gepolsterten Sitz der Reisekutsche von Belmore zurück. Jessie und sein Vater
saßen ihm gegenüber und unterhielten sich miteinander. Jessies leuchtendblaue
Augen blitzten bei jeder Biegung des Weges begeistert von neuem auf. Eine
andere Kutsche folgte ihnen mit Lemuel Green, dem alten Kammerdiener des
Marquis, mit Samuel Osgood, dem Butler, der die Familie oft auf Reisen
begleitete, und mit Jessies Kammerzofe Viola Quinn.
Matt
erinnerte sich an die kräftige Frau vage aus den Tagen, als sie noch in der
Küche des Black Boar Inn gearbeitet hatte. Er konnte es immer noch nicht
fassen, daß Jessie seinen Vater wirklich hatte überzeugen können, eine Frau auf
Belmore einzustellen, die eine solche Herkunft hatte. Doch genausowenig konnte
er fassen, daß sein Vater Samuel Osgood jetzt »Ozzie« nannte, wie Jessie es
tat. Sein Vater hatte sich verändert in den Jahren seit der Ankunft von Jessie
Fox. Matt war nicht sicher, ob die Veränderung gut war oder nicht.
Er
betrachtete Jessie und sah, daß sie ihn unter der breiten Krempe ihres mit
Blumen besetzten Strohhutes hervor beobachtete. Er lächelte sie an, mit einem
Lächeln, das ihr genau sagte, daß er sie erwischt hatte. Prompt leuchteten zwei
hochrote Flecken auf ihren Wangen.
Hastig sah
sie zum Fenster hinaus, und sein Lächeln erlosch. Er mußte immer wieder daran
denken, wie er heimlich mit angehört hatte, daß sie seinen Vater bat, eine Ehe
zwischen ihnen beiden nicht zu forcieren. Seine Brust schien in dem Moment zu
eng geworden zu sein. Er wußte, warum sie das getan hatte. Sie hatte ihn
gehört, damals, an dein Abend, als er wütend auf seinen Vater gewesen war,
eine solche Verbindung überhaupt nur vorzuschlagen. Da hatte er sie die Tochter
einer Dirne genannt.
Dann war
sie Caroline Winston begegnet, der Frau, die er heiraten wollte. Caroline besaß
Reichtum und eine Stellung in der Gesellschaft, etwas, das Jessie nicht hatte.
Caroline bewegte sich in den gleichen gesellschaftlichen Kreisen wie er, sie
hatte eine ähnliche Ansicht vom Leben. Und Jessie glaubte, daß
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