Stachel der Erinnerung
folgte ihr. Fast eine Woche war vergangen,
seit Matthew mit Bedauern seinen Besuch bei ihr in Winston House abgesagt
hatte. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört.
Inzwischen
hatte sie erfahren, daß das Mündel des Marquis in Belmore Hall wohnte. Man
sagte, sie sei eine hübsche junge Frau, ein paar Jahre jünger als Caroline.
Einige der Pächter von Winston hatten über sie gesprochen, hatten die
Geschichten wiederholt, wie freundlich sie zu den Pächtern von Belmore war, und
natürlich blühte auch der Klatsch, der unvermeidbar von der Dienerschaft zweier
so großer Häuser verbreitet wurde.
Sie sagten,
sie sei nicht nur hübsch, sondern wunderschön, mit langem goldenem Haar und
klaren blauen Augen. Sie war irgendwo aus dem Süden gekommen, ein Mädchen vom
Lande, sagte man, die Tochter eines entfernten Cousins des Marquis.
Caroline
war neugierig auf dieses Mädchen, und die guten Manieren verlangten obendrein,
daß sie Belmore einen Besuch abstattete.
Außerdem
machte sie sich Sorgen, warum Matthew sie noch nicht besucht hatte, wie in
seinen Briefen angekündigt. Wenn sie jetzt Miss Fox einen Besuch abstattete,
würde ihr das eine Möglichkeit geben, den Grund dafür herauszufinden.
Sie war ein
wenig überrascht, als Matthew sie in der Eingangshalle begrüßte. Er schien
sich über ihren Besuch zu freuen, denn er nahm ihre beiden Hände in seine und
gab ihr einen leichten Kuß auf die Wange.
»Caroline,
mein Liebling, es tut gut, Euch wiederzusehen.« Er entschuldigte sich nicht,
gab keine Erklärung, warum er nicht zu ihr gekommen war, doch seine Augen
blickten freundlich, und sie fühlte sich erleichtert, weil seine Gefühle ihr
gegenüber sich offensichtlich nicht verändert hatten.
»Ich freue
mich, daß Ihr hier seid«, gestand er ihr mit einem herzlichen, entwaffnenden
Lächeln. »Ich hatte vor, Euch noch vor dem Wochenende zu besuchen, aber jetzt
seid Ihr ja hier, und das ist noch viel besser. Ich konnte es kaum erwarten,
Euch wiederzusehen, Caroline.«
Leichte
Erregung stieg in ihr auf. Matthew Seaton war groß, blond und sah sehr gut aus.
Er war reich und besaß einen Titel. Und er war der Erbe von Belmore. »Oh,
Matthew, ich habe Euch so schrecklich vermißt.« Sie schmiegte sich kurz in
seine Arme, angemessen für einen Mann, der zwei Jahre auf See gewesen war und
der schon beinahe mit ihr verlobt war. »Es ist wundervoll, Euch wiederzusehen.«
Matthew
wollte etwas sagen, doch in diesem Augenblick trat der Marquis in die mit
Marmorboden versehene Eingangshalle. »Lady Caroline. Wie nett von Euch, uns zu
besuchen. Jessica hat sich schon sehr darauf gefreut, Euch kennenzulernen.«
Nicht, wenn
sie dem Ton seiner Stimme glauben konnte. Aber vielleicht fühlte der Marquis
sich nicht wohl, so wie die Gerüchte der letzten Zeit sie hatten wissen lassen.
Sie lächelte,
doch sie war instinktiv auf der Hut. »Ich freue mich auch darauf, ihre
Bekanntschaft zu machen.« Matthew nahm ihren Arm, und der Marquis ging ihnen
voraus in den großen Salon im vorderen Teil des Hauses. Im Hintergrund des
Raumes erhob sich eine blonde Frau in einem modischen, blaßblauen Musselinkleid
von einer mit Brokat bezogenen Polsterbank, die vor dem Sprossenfenster stand.
Jessica Fox war ungefähr gleich groß wie Caroline, doch ihre Figur war etwas
fül liger, fraulicher, ihr Hautton cremig und nicht blaß. Ihr Haar hatte die
Farbe feingesponnenen Goldes. Es glänzte im Licht der Sonne, das durch das
Fenster fiel. Caroline spürte einen plötzlichen Anflug von Angst beim Anblick
der Schönheit dieser Frau.
»Lady
Caroline«, sagte der Marquis, »darf ich Euch mein Mündel vorstellen, Jessica
Fox.« Mehr sagte der alte Herr nicht, er entschuldigte sich auch nicht, sondern
blieb einfach neben Caroline stehen. Irgendwie hatte Caroline das Gefühl, als
ob beide Männer diesem Mädchen ihre Unterstützung gaben.
Das Mündel
des Marquis trat ein paar Schritte vor. »Es ist mir eine Freude, Euch
kennenzulernen, Mylady.« Sie sprach die Worte voller Anmut und mit der Würde
einer Herzogin. Der Marquis strahlte.
»Jessica
ist erst seit sechs Monaten in Belmore«, begann er zu erzählen. »Vorher war sie
Schülerin in Mrs. Seymours Privatschule.«
Caroline
wandte sich der wunderschönen Miss Fox zu und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich
habe eine Cousine, die in derselben Schule war«, sagte sie. »Vielleicht kennt
Ihr sie? Ihr Name ist Frances Featherstone. Die Tochter von Sir Albert Featherstone.
«
»Aber
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