Stachel der Erinnerung
Entscheidung.
Sie atmete
tief durch. Dann stand sie von ihrem Bett auf. Jetzt, wo
sie endlich der Wahrheit ins Auge sah, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als
daß alles schnell vorüber wäre. Matthew war für sie verloren. Im Grunde hatte
sie allerdings niemals eine Chance bei ihm gehabt. Es war bitter, die Wahrheit
zu akzeptieren, doch sie hatte schon früher Schlimmes erleiden müssen. Mit der
Zeit würde sie darüber hinwegkommen.
Unruhig
lief Jessie in ihrem Schlafzimmer hin und her. Sie wartete darauf, daß die Zeit
kam, zu der der Marquis von seinem Mittagsschlaf aufwachte. Sobald die Uhr die
Stunde schlug, ging sie zu seiner Suite am Ende des Westflügels. Ihre Nerven
waren zum Zerreißen gespannt.
Sein alter
Kammerdiener, Lemuel Green, öffnete ihr die Tür, als sie leise klopfte. »Ja,
Miss?«
»Ich würde
gern Seine Lordschaft besuchen. Ist er schon von seinem Mittagsschlaf
aufgewacht?«
»Ja, Miss,
das ist er. Ich werde ihm sagen, daß Ihr hier seid.«
Sie tigerte
nervös in dem Wohnzimmer auf und ab, bis Lemuel zurückkam. »Ich fürchte, er
fühlt sich nicht recht wohl, Miss Fox. Aber er erlaubt Euch, ihn in seinem
Schlafzimmer zu sehen, wenn Ihr das wünscht.«
Ein Hauch
von Furcht beschlich Jessie. Bis vor ein paar Wochen war Papa Reggie gesund
und voller Leben gewesen. Doch in letzter Zeit wurde er immer hinfälliger. Auch
der Arzt konnte nicht feststellen, was ihm fehlte.
»Danke,
Lemuel. Ich werde sofort zu ihm gehen.«
Der
Kammerdiener nickte und ließ sie in das angrenzende Schlafzimmer.
»Hallo,
Papa Reggie.«
»Komm rein,
meine Liebe, komm rein. Setz dich hier neben mich.«
Sie setzte
sich auf den Rosenholzstuhl neben dem riesigen Himmelbett des Marquis, dann
griff sie nach seiner Hand und hielt sie fest. »Wie fühlst du dich?«
»Ein wenig
schlapp. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Er warf einen Blick in
ihr blasses Gesicht und runzelte besorgt die Stirn. »Was ist los, meine Liebe?
Du machst dir doch nicht etwa Sorgen wegen dieses jungen Dings, dieser Windton?
Das ist nicht nötig. Ich fand, daß du dich recht gut geschlagen hast.«
»Nein, Papa
Reggie, es geht hier nicht um Lady Caroline.« Wenigstens nur indirekt. »Es gibt
da etwas, über das ich mit dir reden möchte. Aber wenn du dich nicht wohl
fühlst, dann ist es vielleicht besser, wenn ich morgen wiederkomme.«
»Unsinn.
Ich bin nur etwas müde, das ist alles. Und jetzt erzählst du mir, warum du so
traurig dreinblickst.«
Sie hatte
gehofft, man würde ihr nicht ansehen, wie schmerzlich das für sie war. Sie
holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Es geht um deinen Sohn.«
»Um
Matthew? Was ist mit ihm?« Er runzelte die Stirn. »Dieser Kerl hat sich doch
nicht etwa Freiheiten dir gegenüber erlaubt, oder?«
Heiße Röte
stieg in Jessies Gesicht, als sie an seinen leidenschaftlichen Kuß dachte.
»Nein, nein, natürlich nicht. Das ist es nicht.«
»Was denn
dann?«
»Es ist nur
so, daß ich das Gefühl habe, er sei vielleicht daran interessiert, mir ... den
Hof zu machen.« Lieber Gott, wie konnte sie nur so schamlos lügen. »Weil ich dein
Mündel bin», sprach sie weiter. Sie verschränkte die Finger im Schoß wegen
dieser Lüge und hoffte, daß sie dafür nicht in der Hölle schmoren mußte. »Ich
befürchte, daß er glaubt, er hätte so eine Art Verantwortung für meine Zukunft.
Vielleicht denkt er sogar daran, daß es ehrenhaft wäre, mich zu heiraten,
selbst wenn er andere Pläne hat.«
»Wie zum
Beispiel Lady Caroline«, brummte der Marquis.
»Nun ja,
ja. Matthew kann sehr ritterlich sein, das weißt du sowieso.« Sie dachte an die
Rettung vor ihrem Bruder. Wenigstens das war nicht gelogen.
»Ja – und
er kann auch ein sehr steifer Stutzer sein.«
Zu jeder
anderen Zeit hätte Jessica über diese Bemerkung gelächelt. »Tatsache ist, daß
eine Ehe zwischen uns beiden ein Fehler sein würde.«
»Aber warum
denn, um alles in der Welt?«
»Weil wir
beide ganz einfach nicht zusammenpassen. Wir haben keinerlei Gemeinsamkeiten,
keine gemeinsamen Freunde, keine Interessen, die wir teilen. Eine Ehe zwischen
uns würde niemals gutgehen, und es würde nicht sehr lange dauern, bis wir beide
sehr unglücklich wären.«
Sie drückte
seine Hand. »Wenn die Dinge anders stünden« – wenn er mich als seine Frau
haben wollte –, »dann wäre eine Ehe mit deinem Sohn die größte Ehre, die
ich mir vorstellen könnte.« Sie vermied es, ihn anzusehen, sie konnte seinem
wissenden, klugen Blick
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