Stadt Aus Blut
Fersen.
– Hast du vielleicht einen Moment Zeit, Joe?
– Vielleicht habe ich haufenweise Zeit. Vielleicht schwirrt die Zeit nur so um mich herum, aber ich hab verdammt noch mal keine Lust, sie mit irgendjemandem zu teilen. Alles klar?
Er lacht.
– Was gibt’s da zu lachen?
– Man hat mir von deinem Humor erzählt, Joe. Von deiner Weisheit, die sich hinter Ironie verbirgt. Umherschwirrende Zeit. In der Tat, viele gehen so mit ihrer Lebenszeit um. Als wäre es etwas, das man aufbewahren kann, und nicht ein Phänomen, das man erfahren muss.
– Soll ich mir den Scheiß jetzt die ganze Nacht anhören, Arschloch? Kann ich nicht einfach eine Spende machen oder mal freiwillig in eurer Suppenküche arbeiten? Lässt du mich dann in Ruhe? Ich will mir deinen Mist nicht anhören.
– Aber Joe, du musst dir gar nichts anhören. Du musst überhaupt nichts tun. Nur sterben, Joe, das müssen wir alle. Alle bis auf einen von uns.
– Ich bin schon gestorben. Also verpiss dich.
– Es gibt Ärger, Joe.
– Es gibt immer Ärger. So wie ich es sehe, ist der Ärger ein Ehrenbürger dieser Stadt.
– Du bist in Gefahr. Du brauchst Verbündete.
– Das wäre mir neu.
– Du weißt Bescheid. Du weißt von dem, das man nicht riechen oder sehen kann.
Ich bleibe stehen.
– Wer soll das sein?
– Es ist kein ›wer‹.
Herr im Himmel. Eine Gespenstergeschichte.
– Dummes Geschwätz.
– Es beobachtet dich.
Jetzt wird es mir zu blöd. Ich gehe weiter. Er folgt mir nicht.
– Grüß die anderen von mir.
– Daniel will dich sprechen.
– Sag Daniel, er soll sich um seinen eigenen Scheiß kümmern.
– Du wirst beobachtet, Simon. Sieh dich vor.
– Du sollst mich nicht so nennen.
Ich drehe mich um, aber er ist verschwunden. Natürlich. So sind die Typen von der Enklave. Dramatischer Auftritt, dramatischer Abgang, und dazwischen nur blödes Gefasel. Ich gehe weiter und tue so, als würde ich meine Gänsehaut nicht spüren und mich nicht beobachtet fühlen.
Evie liebt mich. Ich weiß, dass sie mich liebt, weil sie mir Drinks ausgibt. Es gibt natürlich noch eine Menge anderer Gründe, aber dieser ist im Moment der wichtigste. Weil ich betrunken werden will. Ich habe einen Spaziergang durch die Umgebung gemacht und nach dem Überträger gesucht. Erfolglos. Ich bin zum Park zurück, um mit Leprosy zu sprechen, aber die Penner dort sagten, dass er kurz nach mir abgehauen ist. Also habe ich geseufzt, kräftig geflucht und jetzt bin ich hier, um Evie zu sehen und was zu trinken.
Es ist kurz nach Mitternacht an einem Sonntag. Langsam füllt sich die Bar. Eine Bluegrass-Jam-Session ist in vollem Gang, und eine Handvoll Pärchen versucht einen Twostepp zwischen den Tischen. Es sind alles Leute, die in den Bars und Restaurants der Umgebung arbeiten und nach ihrer Schicht Dampf ablassen wollen. Evie arbeitet gerne sonntags. Sie sagt, es wäre die Nacht der Profis. Zwar ist Freitag und Samstag mehr los, aber heute macht sie mehr Gewinn, weil diese Leute wissen, wie man anständig Trinkgeld gibt. Außerdem haben viele montags frei. Also versuchen sie, sich einen lustigen Abend zu machen und sturzbesoffen zu werden. Und mal ganz ehrlich: Die wissen genau, wie man gepflegt abstürzt.
Der Zwerg, den ich gesucht habe, als ich Evie das erste Mal traf, ist auch da. Er heißt Dixon und ist eigentlich ein ganz netter Kerl, mal abgesehen davon, dass er ein hoffnungsloser Spieler ist. Ich kippe einen weiteren Old Crow und spüle ihn mit einem Schluck Lone Star hinunter.
Ich kann mich betrinken. Es ist zwar verdammt schwer, weil das Vyrus Alkohol wie jedes andere Gift behandelt und möglichst schnell neutralisieren will, aber wenn ich ausreichende Mengen in kurzer Zeit in mich hineinschütte, kann ich schon einen Schwips bekommen. Das Gute daran: kein Kater am nächsten Tag! Ein eindeutiger Vorteil des Vampyrdaseins. Evie schlängelt sich zu mir durch und schenkt mir nach. Das müsste sie nicht tun, da die Flasche direkt vor mir steht, aber es ist eine nette Geste.
Jede Geste Evies ist eine nette Geste. So eine Frau ist sie. Eine, die ich gerne ansehe, aber die ich nicht berühren werde. Ich kippe einen weiteren Bourbon. Wieder schenkt sie nach. Sie trägt (von unten nach oben): Cowboystiefel, knappe Jeans, ein enges T-Shirt mit der Aufschrift TITTEN quer über denselben und ein Lächeln, das nur mir gilt. Ich betrachte sie und nehme noch einen Drink.
Sie schenkt mir ein und nimmt dann selbst einen Schluck aus der Flasche. Sie
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