Stadt der Finsternis - Andrews, I: Stadt der Finsternis
mitzunehmen war völlig ausgeschlossen. Julie war nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ich. Ich konnte mit einem Messer losziehen, mit dem Wald eins werden und Wochen später auf der anderen Seite wieder ans Tageslicht kommen, als wäre nichts gewesen. Julie würde damit nicht zurechtkommen. Es war am verantwortlichsten, wenn ich sie dort zurückließ, wo sie war.
Sie würde abhauen und nach mir suchen. Sie würde sofort losrennen.
Ich musste eine Nachricht an die Schule schicken und ihr mitteilen, dass ich verschwinden und sie dort bleiben musste. Und hoffen, dass sie sich daran hielt.
Es sah nicht gut aus. Wenn man jemanden liebt, schränkt das den eigenen Handlungsspielraum ein.
Was wäre, wenn ich tatsächlich untertauchte und Erra meine Fährte verlor? Ihr nächstes Ziel wäre das Rudel. Sie würde die Gestaltwandler vernichten. Und wenn sie mit ihnen fertig war, hatte sie noch die ganze Stadt zum Spielen. Wenn sie wirklich tat, wofür sie berüchtigt war, würde Atlanta zu einer Stadt voller Pestleichen werden.
Erra war eine Gestalt aus meinen kindlichen Albträumen. Zum ersten Mal, seit ich erwachsen geworden war, wünschte ich mir, mein Vater wäre noch am Leben, so wie ein Kind sich wünschte, seine Eltern würden in ein dunkles Schlafzimmer kommen und das Licht einschalten. Nur dass Voron tot war. Außerdem war mir klar, was er mir geraten hätte: Lauf. Lauf weg, so schnell und so weit du kannst. Jetzt hatte ich noch Gelegenheit dazu, bevor sie mich fand. Wenn ich dieses Fenster zufallen ließ, war mir der Fluchtweg für immer versperrt. Ende der Vorstellung.
Ich hob Slayer vom Boden auf und strich mit den Fingern über die Klinge. Ich spürte, wie die Magie auf meiner Haut kribbelte. Das Bedürfnis wegzulaufen packte mich. Die Wände schienen näher zu kommen, als wäre das Apartment geschrumpft.
Das war nicht ich. Normalerweise geriet ich nicht in Panik. Ich musste wieder klar werden.
Ich schloss die Augen und ließ alles los. Ich stellte mir das schlimmstmögliche Szenario vor. Julie tot, ihr kleiner Körper blutüberströmt. Curran tot, zerbrochen, mit grauen Augen, die ins Nichts starrten, ohne eine Spur von Gold. Jim, Andrea, Raphael, Derek, alle tot, übel zugerichtete Leichen.
Meine Hände wurden eiskalt. Mein Puls raste. Mein Herzschlag hämmerte in meinen Ohren, viel zu laut.
Atlanta tot. Leichen auf den Straßen. Geier, die am Himmel kreisten, aber nicht niedergingen, weil die Leichen Gift waren.
Ich beschwor das alles herauf. Es schmerzte. Mein Gesicht war schweißüberströmt.
So blieb es eine Zeit lang.
Allmählich verlangsamte sich mein Herzschlag. Ich atmete tief ein und wieder aus. Und noch einmal. Die Erschöpfung überrollte mich wie eine träge schwappende Welle. Der Pudel leckte an meiner Hand.
Ich hatte meinem Geist vorgegaukelt, dass das Schlimmste geschehen war und dass ich es überlebt hatte. Doch alle lebten noch. Ich hatte immer noch die Chance, sie zu retten.
Mein Atem beruhigte sich. Furcht und Sorge fielen von mir ab. Angst kostete Kraft. Man konnte nur ein gewisses Maß an Angst ertragen, bevor der Körper abschaltete, um sich zu schützen. Ich hatte die Schaltkreise überlastet. Ich wurde ruhiger. Mein Geist setzte sich langsam wieder in Bewegung, wie eine rostige Uhr. »Ich hatte meinen Spaß. Ich habe Freunde gewonnen, ein Kind adoptiert, mich verliebt. Jetzt ist es an der Zeit, die Zeche zu bezahlen.«
Grendel legte den Kopf schief.
»Außerdem hat die Hexe Marigold auf dem Gewissen. Dafür müssen wir sie fertigmachen. Bist du dabei?«
Der Pudel drehte sich um, trottete in die Küche und kam mit seinem Fressnapf zurück.
»Wo ist dein Altruismus geblieben? Na gut. Ich werde dich in Form von Fleisch entlohnen, wenn du mir hilfst, sie zu töten.«
Der Hund bellte.
»Also sind wir im Geschäft. So, jetzt wollen wir mal sehen, was wir noch für dich zusammenkratzen können.« Ich grinste und stieß mich vom Boden ab. Alles tat mir weh. Ich war völlig erschöpft. Das Machtwort und der Kampf hatten mir das Letzte abverlangt, und die Verletzung machte es keineswegs besser. Ich kam mir vor, als würde ich Stahlketten mit mir herumschleppen.
Ich schaffte es mit meinen unsichtbaren Ketten in die Küche. Ich öffnete den Kühlschrank, warf den untoten Kopf in den Müll und suchte nach etwas Essbarem.
Ein Klopfen hallte durch meine Wohnung.
*
Ich verfrachtete Grendel ins Bad und öffnete die Tür.
Auf der Veranda stand Erra, in einen Pelzmantel
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