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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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gelebt hatte und wohin er zurückgekehrt war – jetzt, da ich von dort weggegangen war. Mein Schlüssel passte immer noch. Sciles Zeug war überall, die Wohnung gehörte nun allein ihm; doch er war nicht da. Es gab eine zusammengefaltete Notiz von ihm, die an mich adressiert war: auf dem Bett, das einst das unsere gewesen war. Sie war bereits einmal auseinandergebreitet und wieder zusammengelegt worden, wie ich bemerkte. Ich entfaltete sie ein wenig – gerade genug, um die Zeilen »Hiermit sage ich Auf Wiedersehen« zu lesen – und hielt inne.
    CalVin waren in einem anderen Zimmer. Die Nachricht war falsch gewesen. CalVin waren nicht tot. Vin war tot. Er baumelte. Cal beobachtete ihn, wie er sich gleich einem Pendel bewegte. Ich sah eine weitere Notiz auf einer anderen Matratze.
    Cal schaute mich an. Gott weiß, was er in jenem Moment in meinem Gesicht erblickte.
    »Ich habe es nicht gefühlt«, sagte er. »Ich wusste es nicht. Ich …« Er berührte seinen Nacken, sein Verbindungselement. »Es war … Aber wir haben es wieder eingeschaltet. Ich hätte es wissen sollen. Ich wusste es nicht. Wie konnte … Ich wusste es nicht.«
    Ich hörte einen Verlust in seiner Stimme, der ihn fast um den Verstand brachte.
    »Wie?«, rief er. »Wer ist das?« Er streckte seine Hände in Richtung seines toten Doppels, seines Bruders, der unmöglich allein tot sein konnte.

Sechster Teil

NEUE KÖNIGE

17
    Stundenlang hielt ich Sciles Schreiben in der Hand, und ich glaube nicht, dass ich es auch nur bemerkte. Ich war es, die zu guter Letzt allein mit Cal zurückblieb, nachdem wir ihn zur Botschaft gebracht und ihm Beruhigungsmittel gegeben hatten.
    »Hast du ihn heruntergeschnitten?«, wollte er wissen.
    »Wir haben uns um ihn gekümmert«, antwortete ich.
    »Warum bist du hier?«, fragte er, während andere kamen und gingen.
    »MagDa werden in einer Minute hier sein«, erwiderte ich. »Sie organisieren nur ein paar …«
    »Das meinte ich nicht.« Sekundenlang sprach er nicht weiter. »Ich habe mich nicht beklagt, Avice. Vin ist gegangen … Warum bist du hier mit mir?« Selbst jetzt war es schwer, etwas anzuerkennen, das wir seit Monaten gewusst hatten: die Tatsache der Verschiedenheit.
    Ich schwieg lange, dann zuckte ich mit den Schultern.
    »Ich habe es einfach nicht gewusst.« Seine Stimme klang verwundert. »Ich musste … Wir trennen uns mittlerweile manchmal; wir müssen es ein kleines bisschen. Und … Ich war nur … Er und Scile arbeiteten, dachte ich, und …«
    Er legte seine eigene Notiz von seinem Doppel auf das Bett. Er ließ sie mich nehmen. Leute brachten Essen und drückten murmelnd ihr Beileid aus: CalVin waren schnell in Selbstsucht versunken, während andere darum kämpften, die Welt in Ordnung zu bringen. Doch Cal – und somit CalVin – hatten in früheren Zeiten weit genug im Mittelpunkt gestanden, um etwas zu erhalten. CalVin waren ein führender Botschafter gewesen. Sie galten als Favorit für die Nachfolge von JoaQuin in ihrer Eigenschaft als Leiter der Botschaft, wenn diese sich zurückziehen würden. Für viele aus dem Komitee war ihr Versagen kein Fehler, sondern eine Krankheit, und dies war ihr schreckliches Resultat. Ich faltete Vins Nachricht auseinander.
     
Ich bin nicht wie du. Vergib mir.
Erzähl ihr etwas über mich.
Bitte vergib mir. Ich bin nicht so stark. Ich habe genug gehabt.
    Vielleicht hatte ich etwas wie diese zweite Zeile erwartet oder erhofft.
    »Du siehst meine Anweisungen«, sagte Cal. »Was also soll ich dir erzählen?«
    Und obwohl er versuchte, es unangenehm zu machen, konnte ich es nicht ertragen, wie seine Stimme brach. Ich schaute auf den anderen Zettel, auf Sciles Brief.
    »Ich denke, es war … Vin fand das, kurz bevor …«, stammelte Cal. Ich hatte nicht gehört, dass MagDa und Bren hereingekommen waren. Ich bemerkte erst, dass sie da waren, als Cal etwas sagte wie: »Avice Benner Cho und ich vergleichen gerade unsere Abschiedsbriefe.«
    Liebste Avice , las ich.
     
Liebste Avice,
hiermit sage ich Auf Wiedersehen. Ich gehe. Hinaus. Ich hoffe, du kannst mir das verzeihen, doch ich kann nicht bleiben. Ich werde hier nicht mehr länger leben …
    Dann hielt ich inne und faltete das Ding wieder zusammen. Selbst Cal schaute mich mit ein bisschen Mitleid an.
    »Einst war er etwas«, sagte ich. »Damit werde ich mich nicht abgeben.« Das ist nicht der Mann, den ich geheiratet habe , könnte ich erklärt haben, und ich schockierte die anderen durch mein kaltes Lachen. Ich

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