Stadt der Fremden
melancholisch. Mehr als eine Person nahm, wie es hieß, die Oates Road. Der Betreffende legte sich eine Maske zum Atmen an und ging einfach aus Botschaftsstadt hinaus; schritt dann weiter, bis er außer Sicht und in der Gastgeberstadt war – sogar noch über sie hinaus, wie einige Geschichten berichteten: um das zuzulassen, was auch immer geschehen würde. Doch die gebräuchlichste Wahl für jene, die sich durch die neuen Zeiten zum Tode drängen ließen, war das Aufhängen. Gemäß irgendwelchen Protokollen, von denen ich keine Ahnung hatte, entschieden Nachrichtenredakteure, dass diese zumeist unblutigen Leichname ohne digitale Verschleierung gezeigt werden konnten. Wir gewöhnten uns an Bilder von baumelnden Toten.
Die Nachrichten vermeldeten nicht die Selbstmorde von Botschaftern.
MagDa zeigten mir Bildmaterial mit den Leichen von Hen und Ry, die ineinander verschlungen auf ihrem Bett lagen, was durch die vom Gift hervorgerufenen Krämpfe verursacht worden war.
»Wo sind ShelBy?«, fragte ich. ShelBy und HenRy waren zusammen gewesen.
»Fort«, erwiderten MagDa.
»Sie werden auftauchen«, meinte Mag, und Da ergänzte: »Tot.« »HenRy werden nicht die Letzten sein.« »Sie werden nicht mehr viel länger in der Lage sein, diese Art von Dingen zu verbergen.« »Tatsächlich ist mit Blick auf die Bevölkerungsgröße …« »… die Rate überdurchschnittlich.« »Wir töten uns selbst mehr als andere.«
»Nun«, sagte ich. Das alles war normal. »Ich nehme an, das ist kein Wunder.«
»Nein, ist es nicht, nicht wahr?«, erwiderten MagDa. »Das ist es wirklich nicht.« »Ist es irgendwie ein Wunder?«
Wir zwangsrekrutierten einige der herrenlosen Maschinen von Botschaftsstadt und luden ihnen all die verfügbare ’ware auf, mit der wir sie weniger dumm machen konnten. Dennoch waren sie untauglich für alles, mit Ausnahme von grundlegenden Aufgaben.
Ehrsul reagierte immer noch nicht auf meine Anrufe, und auch nicht auf die aller anderen, wie ich erfuhr. Mir wurde bewusst, wie viele Tage vergangen waren, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, und ich war beschämt und schlagartig besorgt. Ich ging zu ihrem Apartment. Allein: Ich war nicht die Einzige vom neuen Botschaftspersonal, die sie kannte, doch wenn sich irgendeine der schlimmsten Folgen, dieich mir plötzlich vorstellte, als wahr erwies, könnte ich dies nur ertragen, wenn ich es allein herausfände – und sie allein fände.
Doch auf mein Klopfen hin öffnete sie fast augenblicklich die Tür.
»Ehrsul?«, sagte ich. »Ehrsul?«
Sie begrüßte mich mit ihrem üblichen sarkastischen Humor, als ob ihr Name nicht eine Frage gewesen wäre. Ich konnte es nicht verstehen. Sie fragte, wie es mir ergangen wäre, und sagte irgendetwas über ihre Arbeit. Ich ließ sie eine Weile quatschen und mir etwas zu trinken geben. Als ich sie fragte, was sie gemacht hatte, wo sie gewesen war, warum sie nicht auf meine Nachrichten geantwortet hatte, beachtete sie mich nicht.
»Was ist los?«, erkundigte ich mich. Ich verlangte zu wissen, was sie von unserer Katastrophe hielt. Ich fragte, und ihr Avatar-Gesicht erstarrte einfach, flimmerte und kam zurück. Dann fuhr sie mit ihren sinnlosen Tätigkeiten und ihrem richtungslosen Witz fort. Sie entgegnete überhaupt nichts auf meine Fragen.
»Komm mit mir«, forderte ich sie auf. Ich bat sie, sich MagDa und mir anzuschließen. Ich ersuchte sie, mit mir in die Gastgeberstadt zu gehen. Doch wann immer ich etwas zur Diskussion stellte, das für sie bedeuten würde, ihren Raum zu verlassen, trat der gleiche stotternde Fluchtreflex auf. Sie übersprang einen Moment und fuhr dann fort, als ob ich nichts gesagt hätte. Sie redete über irgendetwas Überholtes oder Irrelevantes.
»Da ist entweder irgendein Defekt aufgetreten, oder sie macht es absichtlich«, sagte mir später eine gestresste ’warespezialistin von der Botschaft, als ich es ihr beschrieb. Glauben Sie wirklich? , wollte ich schon erwidern, aber dann verdeutlichte sie es: Es konnte ein Autom-Äquivalent für eine bestimmte Verhaltensform eines Kindes sein – wenn es singt: »Ich kann dich nicht hören«, und dabei die Finger in den Ohren hat.
Als ich Ehrsuls Apartment verließ, sah ich einen Brief vor ihrer Tür, der geöffnet und weggeworfen worden war. Sie nahm ihn nicht zur Kenntnis – selbst dann nicht, als ich mich direkt vor ihr sehr langsam bückte, um ihn aufzuheben, und sie dabei die ganze Zeit anschaute.
Liebe Ehrsul , las ich. Ich bin in Sorge um dich.
Weitere Kostenlose Bücher