Stadt der Lügen
Geschicklichkeit, mit der er eine Klausel in den Vertrag seines Klienten eingebaut hatte, die den prüfenden Blicken sowohl unserer als auch der Anwälte des Senders entgangen war. Das Resultat war ein Gummiparagraf, den man in alle möglichen Richtungen auslegen konnte, der uns aber keine Handhabe ließ, den von vielen Seiten heißbegehrten Alan zu einer zweiten Staffel zu zwingen. Der Agent hatte hervorragende Arbeit geleistet; in Zukunft würden wir so etwas auf keinen Fall mehr zulassen.
Für uns bedeutete sein Ausstieg ein Desaster. Die Sicherheit und die Macht, die uns das Wissen um eine Serie verlieh, die drei, vier, möglicherweise sogar fünf Staffeln überleben würde, alles, was wir für selbstverständlich gehalten hatten, war plötzlich infrage gestellt. Wir hatten lediglich die Wahl, entweder den Schauspieler zu ersetzen, oder die Figur aus dem Stück zu schreiben. Ich setzte mein ganzes Können ein, um einen Ersatz zu ermöglichen. Eine Idee war zum Beispiel, dass Clay in der Pilotsendung einen Autounfall haben könnte und die Verbände nach der folgenden Gesichtsoperation im vierten oder fünften Teil entfernt würden. In der sechsten Folge dürfte dann der neue Schauspieler, dessen Narben mit jedem Pinselstrich des Maskenbildners ein wenig mehr verblassten, an Alans Stelle in Erscheinung treten.
Claire wusste lange vor dem Sender, dass so etwas nicht funktionieren konnte. Es war abgedroschen. Die Kritik würde uns in der Luft zerreißen und das Publikum nur darüber lachen. Besser war es, die Figur aus der Serie zu schreiben und dabei möglichst viel Dramatik herauszuschinden. Anschließend müsste man einen neuen Bösewicht ins Spiel bringen, der dem ersten ausreichend ähnelte, aber dennoch genügend Unterschiede bot, um – wie soll ich es ausdrücken? – praktisch identisch mit ihm zu sein. Das war ganz schön viel verlangt. Ich begann mit der Charakterskizze eines des Kindesmissbrauchs angeklagten, ehemaligen Astronauten, der Clays Platz einnehmen sollte. Und genau zu diesem Zeitpunkt nahmen die Ereignisse ihren Lauf.
Meistens setzte ich mich morgens gegen halb neun an den Computer und arbeitete bis mittags. An jenem Morgen fuhr ich den Computer hoch und arbeitete mich mit dem Cursor im Verzeichnis bis zu der Datei vor, die noch immer nur einfach »Ersatz« hieß. Sie enthielt die Entwürfe für die neue Figur, an der ich arbeitete. Wie die meisten Menschen, die mit Computern arbeiten, wusste ich von mindestens der Hälfte der aufgelisteten Dateien nicht mehr, was sich darin verbarg. Ich hätte sie öffnen müssen, um den Inhalt in Erfahrung zu bringen. Sie hatten sich über Wochen und Monate angesammelt, waren mir vertraut, weil ich sie Tag für Tag auf dem Bildschirm sah, und eines Tages würde ich sie entweder wieder brauchen oder endgültig löschen. Doch an diesem Morgen entdeckte ich eine Datei, die ich bisher noch nie gesehen hatte. Sie hieß »Hilfe«. Ich forschte in den beiden rechts vom Namen gelegenen Spalten, die die Anzahl Bytes anzeigen, aus denen die Datei besteht, und das Datum des letzten Zugriffs festhalten. Merkwürdigerweise schien die Datei leer zu sein, der letzte Zugriff hatte um dreiundzwanzig Uhr einundfünfzig des vergangenen Tages stattgefunden.
Ich hatte zwar am Vorabend noch ein wenig gearbeitet, konnte mich aber nicht erinnern, so spät noch am Computer gesessen zu haben. Jedenfalls klickte ich »Hilfe« an, um sicherzustellen, dass die Datei tatsächlich so leer war, wie das Verzeichnis behauptete. Sie war es. Bestimmt hatte ich einen Einfall gehabt, ihn aber dann schnell wieder vergessen. Ich löschte die Datei.
Und nun stellen wir die Uhr vierundzwanzig Stunden vor. Am folgenden Morgen setze ich mich an den Rechner, fahre ihn hoch – und was sehe ich? »Hilfe« ist wieder da.
Das war insofern besonders merkwürdig, als dass ich am Vorabend nicht gearbeitet hatte – und ganz bestimmt nicht um zwei Uhr morgens; zwei Uhr sieben, um genau zu sein. Noch befremdlicher war, dass dieses Mal etwas in der Datei zu stehen schien. Ich öffnete sie und las Folgendes:
Das darf nicht passieren. Du musst mir aus diesem Schlamassel heraushelfen. Es gibt niemand anderen, an den ich mich wenden könnte.
Autoren schreiben manchmal Sätze auf, die für sich allein genommen absolut sinnlos scheinen, von denen sie aber wissen, dass sie eine ganze Reihe komplexer Erinnerungen auslösen können. Doch das, was ich hier las, war keine meiner Gedächtnisstützen. Ich
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