Stadt der Masken strava1
in Bellezza der nächste Tag zu sein, obwohl es Nacht gewesen war, als er seine eigene Welt verlassen hatte. Er hatte einen nicht enden wollenden langweiligen Tag in seinem Bett in London verbracht. Nur die Farbfotos in den Büchern über Venedig, die ihm sein Dad aus der Bücherei gebracht hatte, hatten ihn aufgemuntert.
Lucien griff sich an den Kopf und wagte es kaum zu glauben, als seine Finger die dichten Locken spürten.
Es klopfte leise an der Tür, dann steckte ein ziemlich hässlicher alter Mann den Kopf herein. »Schnell«, zischte er. »Wir müssen dich fortbringen, bevor es jemand merkt.« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er schnellen Schrittes auf Lucien zu, führte ihn am Ellbogen aus dem Zimmer, über den Innenhof und hinunter zum Anleger der Scuola, wo eine schlanke schwarze Mandola festgemacht war. Er verfrachtete Lucien in das Boot, dann wendete er es geschickt mitten auf dem Kanal und steuerte es mit erstaunlicher Geschwindigkeit davon.
»Wo fahren wir hin?«, wollte Lucien wissen, denn er war sich nicht sicher, ob er gerade gerettet oder entführt wurde. Doch wie bei seinen vorherigen Erlebnissen in Bellezza genoss er ganz einfach das Gefühl, dass es ihm gut ging, und ließ sich ein Stück weit treiben.
»Ins Laboratorium«, sagte der Mandolier knapp. »Signor Rodolfo erwartet dich.«
Da ihm das gar nichts sagte, verhielt sich Lucien still, bis die Mandola an einem Anleger zum Halten kam, der irgendwo hinter dem großen Platz liegen musste, auf dem er sich am Tag zuvor plötzlich befunden hatte. Er konnte die silbrigen Kuppeln des Doms ganz in der Nähe hinter den Dächern aufragen sehen.
Sein Begleiter führte ihn eine Marmortreppe hinauf, die direkt aus dem Kanal emporstieg, und geleitete ihn durch eine schwere Holztür, die dem Anschein nach ständig geöffnet war. In dem Haus oder Palast war es dunkel und Lucien stolperte, weil er nach dem hellen Sonnenlicht auf dem Kanal Schwierigkeiten hatte, seine Augen umzustellen.
Weiter ging es über viele Stufen, bis er sicher war, sich im letzten Stock des Gebäudes zu befinden. Der Mandolier machte vor einer dicken dunklen Holztür Halt, klopfte und gab Lucien einen Stoß.
Gleich hinter der Schwelle blieb Lucien stehen. Er versuchte zu begreifen, was er da sah. Es war eine Mischung aus einer Werkstatt, einem Chemielabor und einer Bibliothek. Es hing nicht gerade ein ausgestopftes Krokodil von der Decke, aber auch das hätte ganz gut gepasst. Der Raum war mit ledergebundenen Folianten gefüllt, mit Regalen voller Gläser und Flaschen, die farbige Flüssigkeiten oder Dinge enthielten, die er nicht benennen konnte. Auf einem Gestell standen riesige Kugeln und in einer Ecke sah er ein seltsames Gebilde aus Metallreifen auf einem Ständer. Und es gab ein Modell des Sonnensystems. Lucien war sicher, dass es sich bewegte.
In der Ecke neben einem hohen Fenster mit niedriger Fensterbank saß ein Mann, der in schwarzen Samt gekleidet war. Seine Gewänder sahen kostbar aus und Lucien wusste sofort, dass es sich um eine wichtige Persönlichkeit handeln musste – auch wenn das weniger damit zu tun hatte, wie er gekleidet war, sondern eher mit der Aura, die ihn umgab. Er hatte weißes Haar und war groß und schlank. Er saß wie ein lauernder Habicht in seinem Sessel. Dennoch hatte er nichts wirklich Beängstigendes an sich, obwohl er eine Art beherrschte Macht zur Schau trug. Der Mann bedeutete seinem Diener, Alfredo, dass er gehen könne, und Lucien hörte, wie sich die Tür laut hinter ihm schloss.
»Willkommen«, sagte Rodolfo. Seine Augen blitzten auf und er sah aus, als würde er sich am liebsten die Hände reiben. »Ich habe dich schon erwartet.«
»Das hat Ihr Diener auch gesagt«, erwiderte Lucien lahm. »Aber ich verstehe nicht, wieso. Ich meine, ich weiß selbst nicht, wie ich hier gelandet bin. Oder warum.«
»Aber du musst doch vermutet haben, dass es etwas mit dem Notizbuch zu tun hat«, sagte Rodolfo. »Schließlich ist es dir schon das zweite Mal passiert.«
»Ja, schon…« Lucien verstummte. Woher wusste dieser Mann von dem Notizbuch und woher wusste er, dass es schon zweimal passiert war? Zu Hause hatte er den ganzen Tag versucht, mit dem Notizbuch in der Hand einzuschlafen – und der Schlaf hatte sich einfach nicht einstellen wollen. Er hatte das Buch in die Tasche gesteckt, bevor der fremde Mann hereingeplatzt war, und da war es auch immer noch, wenn auch versteckt unter den Jungenkleidern von Arianna, die er zu seiner
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