Stadt der Masken strava1
jedoch auch nur, wenn er das Buch in der Hand hielt.
»Bedeutet das, dass ich in Bellezza nicht schlafen kann?«, hatte er gefragt, als er wieder mit Rodolfo in seinem Laboratorium war.
»Wenn du das Buch festhältst, nein«, sagte Rodolfo, der ihn genauestens nach dem Verlauf seiner vorherigen Reisen ausgefragt hatte.
»Und hierher kann ich nur gelangen, wenn ich in meiner eigenen Welt schlafe?«, bohrte Lucien weiter nach. »Mir ist aufgefallen, dass es hier immer Tag zu sein scheint, wenn es daheim Nacht ist.«
»So sieht es wohl aus«, sagte Rodolfo. »So war es wenigstens auch bei Doktor Dethridge, obwohl auch er nicht wusste, warum es so war. Wir wissen nur eines, nämlich, dass es leichter ist für Stravaganti aus eurer Welt, unsere zu betreten und zu verlassen, als für unsere, in die entgegengesetzte Richtung zu reisen.
Vielleicht, weil der Erste der Bruderschaft, Doktor Dethridge, aus eurer Welt kam und den Zugang geöffnet hat. Wir wissen noch immer sehr wenig über die Zeitverschiebung zwischen den beiden Welten.« Aus welchem Grund auch immer, Lucien war es gelungen, zurückzukehren, indem er das Buch berührt und sich auf sein Zuhause konzentriert hatte. Vielleicht war er jetzt deshalb so erschöpft. Als das Schinkenbrot kam, konnte er es fast ganz aufessen, sehr zur Freude seiner Mutter. Lucien hatte eine geheime Hoffnung: dass all seine Aktivitäten in Bellezza
– gehen, essen, sich ganz normal zu verhalten – sich vielleicht auf sein alltägliches Leben übertragen und ihn hier kräftigen würden. Jetzt konnte er an nichts anderes mehr denken, als in die Stadt zurückzukehren und jede Nacht dort zu verbringen. Aber wie sollte er nur die Zeit in seiner Welt bis zum Abend herumbringen?
Arianna war ratlos. Schließlich erzählte sie ihrer Tante ehrlich, was passiert war.
»Und als ich gesehen habe, dass die Duchessa ihn wählen würde, bin ich davongerannt und heimgekehrt«, schloss sie.
Leonora lief aufgeregt im Hof auf und ab. »Die Sache gefällt mir nicht«, sagte sie. »Da passt doch nichts zusammen. Und ich will auf keinen Fall, dass du dahinein verwickelt wirst. Politik bedeutet immer Ärger in der Lagune – wenn nicht sogar in ganz Talia! Und wenn das irgendwas mit der Duchessa zu tun hat, dann steckt auf jeden Fall Politik dahinter. Dennoch, Senator Rodolfo ist ein ehrenwerter Mann, und wenn er diesen seltsamen Jungen unter seine Fittiche genommen hat, nehme ich an, dass es nicht schaden kann, wenn du die Zeit mit ihm verbringst.«
Leonora schien viel weniger beunruhigt über die Tatsache, dass Lucien aus einer anderen Welt kam, als darüber, dass er in die Machenschaften der Duchessa verwickelt war. Und dann brachte sie noch etwas anderes auf: »Aber das Risiko, das du eingegangen bist, am Verbotenen Tag in der Stadt zu bleiben! Wenn man dich erwischt hätte, wärst du festgenommen und zum Tode verurteilt worden!
Deine Mutter hatte nur zu Recht, sich Sorgen um dich zu machen. Ein Mandolier zu werden, also wirklich! So etwas hab ich ja noch nie gehört!«
Arianna wollte sich verteidigen, doch sie brach ab. Schließlich erlaubte es Leono
ra, dass sie Luciano wieder sah, und die Tatsache, dass er Rodolfos Lehrling war, machte ihn nur umso anziehender. Er muss selbst ein guter Wissenschaftler sein, überlegte sie, sonst würde ihn Signor Rodolfo doch nicht anstellen. Und er will, dass ich ihm die Stadt zeige. Das bedeutet auf jeden Fall Abenteuer! Wenigstens habe ich mehr Chancen, dass mal was Interessantes passiert, als wenn ich hier sitze und das Silber putze!
In einer Taverne im Norden der Stadt schüttete ein Mann in einem blauen Um
hang ein Glas Strega nach dem anderen in sich hinein. Er war der Ansicht, sich das nach dem, was er kürzlich erlebt hatte, verdient zu haben. Gerade noch hat
te er das Haus von Senator Rodolfo ausspioniert – und plötzlich war er in Padavia gewesen! Er hatte Tage gebraucht, um nach Bellezza zurückzuwandern, und er war äußerst schlechter Laune. In Zukunft würde er seinen Herren einiges mehr in Rechnung stellen, wenn er wieder einen mächtigen Gelehrten wie Rodolfo bespit
zeln sollte – zumindest so viel, dass er seine Rückfahrt per Kutsche bezahlen konnte, sollte er wieder aus der Stadt hinausgezaubert werden.
»Noch einen!«, wies er den Mann hinter der Theke an. Nach alldem hatte er nichts anderes im Kopf, als sich einen anzutrinken. Später würde er dann viel
leicht noch seine Verlobte Giuliana besuchen.
»Du bist es!«, rief
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