Stadt der Masken strava1
Er konnte sich nicht vorstellen, jemals so ein gelehrter Experte zu werden wie Rodolfo. Die Lektionen waren schwer. Solange es um Materie und Geologie ging, war das immerhin noch dem ähnlich, was Lucien bisher in den Naturwissenschaften gelernt hatte. Aber meistens war der Unterricht eher wie Meditation. Rodolfo war sehr bemüht, Luciens Fähigkeit zur Konzentration zu entwickeln. »Mach deinen Kopf leer«, sagte er immer, was Lucien unmöglich schien. »Nun konzentriere dich auf einen Punkt in der Stadt. Stelle ihn dir vor. Beschreibe ihn mir. Farben, Gerüche, Geräusche, Beschaffenheit.«
Das war eine Übung, bei der Lucien mit der Zeit immer besser wurde, dank seiner nachmittäglichen Spaziergänge mit Arianna. Schließlich waren ihm die Gässchen und Plätze und Durchgänge von Bellezza so vertraut wie die Straßen und Parks und Wege seines Viertels in Nordlondon. Aber die Stadt verlor nie ganz ihre Fremdartigkeit für ihn.
Sie war wie ein Netz angelegt, zusammengehalten von ihren hunderten von kleinen Wasserstraßen. Die seltsam geformten Landstückchen, die miteinander durch tausende von kleinen Brücken verbunden waren – teils aus Holz, teils aus Stein –, waren dicht bebaut mit hohen, schmalen Häusern, von denen einige vornehm und palastartig waren, andere dagegen ärmer und eher funktional. Jeder kleine Platz hatte seinen eigenen Brunnen und war der natürliche Treffpunkt der Anwohner. Und ganz viel vom Leben der Menschen fand draußen im Freien statt.
Immer wieder wurde Lucien bewusst, dass das Leben in dieser Stadt nach seiner Geschichtsrechnung vor über vierhundert Jahren stattfand. Es gab keine Motorboote auf den Kanälen, kein elektrisches Licht, keine richtigen Toiletten. Er hatte sich sehr angewöhnt, mit einem Gang dorthin zu warten, bis er wieder in seiner Welt war, und sich so wenig wie möglich auf die primitiven sanitären Gegebenheiten Bellezzas einzulassen. Er wusste, sosehr ihn die Stadt auch faszinierte, er blieb ein Besucher, ein Zeit- und Weltenwanderer.
Ein deutliches Zeichen dafür, dass er in der Vergangenheit gelandet war, war auch die Tatsache, dass einige der prächtigen Gebäude so neu waren. Und überall in der Stadt wurden noch neue Häuser gebaut. Mandolas und Kähne mit Steinblöcken reihten sich in den Kanälen aneinander. Die Welt Ariannas war sehr geschäftig und voller neuer Vorhaben.
»Das gibt’s doch nicht!«, rief sie ständig aus, wenn er ihr seine Welt zu erklären versuchte. »Jedermann hat einen Kasten mit lebenden Bildern im Wohnzimmer stehen? Und Jugendliche in unserem Alter haben sogar einen in ihrem Zimmer?
Und überhaupt haben viele ein Zimmer für sich ganz allein? Und sie können mit ihren Freunden am anderen Ende der Stadt reden, ohne das Zimmer zu verlassen? Das gibt’s doch nicht!«
Einige Dinge vermochte er ihr überhaupt nicht zu erklären. Gameboys zum Beispiel. Genauso Fußball. Je mehr Lucien die Regeln und all die kleinen Rituale zu erläutern versuchte, desto lächerlicher klangen sie in seinen eigenen Ohren.
»Und warum ziehen sie sich das Trikot über den Kopf?«, wollte Arianna beispielsweise wissen. Darauf konnte er nichts antworten.
Je mehr er über ihre Welt erfuhr, desto ferner rückte ihm sein Leben in London.
Arianna berichtete ihm von den vielen Festlichkeiten, die in der Stadt gefeiert wurden. Vom Karneval hatte er natürlich in den Büchern über Venedig schon gelesen und sie hatte ihm bei seinem ersten Besuch bereits von der Vermählung mit dem Meer berichtet. Doch es gab außerdem Mandola-Regatten, Ruderregatten, Lichterfestivals, bei denen alle Mandolas mit Fackeln geschmückt wurden, und Feste auf speziellen Brücken, auf denen traditionelle Kämpfe zwischen verschiedenen örtlichen Gruppen ausgefochten wurden. Die Liste hörte gar nicht mehr auf. Es schien, als ob es für die abergläubischen und impulsiven Lagunenbewohner fast jede Woche einen Anlass zum Feiern gab. Und jede Feier wurde durch üppige Festmahlzeiten und wunderbare Feuerwerksschauspiele gekrönt.
»Das hört sich an, als ob man sich hier ständig amüsieren könnte«, sagte Lucien.
»Ihr Bellezzaner wisst wirklich, wie man es sich schön macht.«
»Es ist aber nicht alles schön«, sagte Arianna und machte zur Abwechslung ein ernstes Gesicht. Sie saßen auf einer Steinbank, einen Katzensprung entfernt vom Großen Kanal, und aßen Pflaumen. Arianna deutete über das Wasser, wo ein prächtiges Gebäude kurz vor seiner Vollendung stand. »Die neue
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