Stadt der Masken strava1
Haar.
»Da haben wir sie«, sagte Rodolfo, »unsere Schutzpatronin und Heilige. Das Haar ist der wichtigste Teil. Du kennst doch die Geschichte, wie sie die Füße des Herrn salbte und mit ihrem langen Haar trocknete?«
»Ich weiß, dass das in meiner Welt eine gewisse Maria Magdalena war«, sagte Lucien. »So eine Geschichte gibt es in der Bibel.« Er hatte immer noch keine Ahnung, an wen oder was die Bellezzaner eigentlich glaubten. Ihre Religion schien eine seltsame Mischung zwischen dem Christentum seiner Welt und einem älteren, heidnischen Glauben zu sein.
»Maria Magdalena«, nickte Rodolfo. »Das ist die gleiche Geschichte. Unsere Heilige war zuerst eine Sünderin, die dann dem Herrn diente. Sie wurde erlöst und wurde im Gebiet des Mittleren Meers fast so bedeutend wie unsere große Göttin.
Hast du die Geschichte gehört, wie sie den Drachen bezwang, indem sie ihn beweinte? Komm, gib mir mal das Glas.«
Den restlichen Morgen über arbeiteten sie in einträchtiger Stille. Zur Mittagszeit war die Rahmenkonstruktion der Figur mit Feuerwerkskörpern und Glitzersteinen bestückt, sodass ihre Umrisse sich funkelnd vom Himmel abheben würden.
»Und nun noch das Haar«, sagte Rodolfo.
Lucien fiel etwas ein. »In meiner Welt hatte Maria Magdalena goldenes Haar, soviel ich weiß, aber hier in Bellezza hält man ja nicht viel von Gold.«
Rodolfo sah ihn überrascht an. »Goldenes Haar ist in der Tat ungewöhnlich in Talia, aber gerade deshalb würden wir es bestimmt nicht verachten. Unsere Schutzpatronin hatte allerdings sicher schwarzes Haar«, sagte er. »Aber du hast Recht, es gibt ein Problem: Schwarzes Haar hebt sich nicht vom Nachthimmel ab.«
Er trat an ein hohes Regal und nahm eine Glasflasche heraus, die er bisher noch nicht benutzt hatte. Sie leuchtete in seinen Händen und alle Farben des Prismas schossen daraus durch das Laboratorium. Lucien musste die Augen bedecken.
Als er wieder richtig sehen konnte, entdeckte er, dass das Glas mit Regenbogen gefüllt war. Rodolfo lächelte über das Staunen seines Lehrlings.
»Wir werden ihr Haar mit Mondbögen durchflechten«, sagte er. »Am Fest der Maddalena haben wir Vollmond, und das silbrige Licht wird jeden der farbigen Bögen aufleuchten lassen. Und alle heißblütigen Bellezzaner werden in den Kanal springen, um die Töpfe voller Silber zu suchen, die vielleicht am Ende der Regenbogenlocken liegen.«
In diesem Moment beschloss Lucien, dass er zu Rodolfos Feuerwerk in Talia bleiben würde, komme, was da wolle.
Kapitel 9
Die zwölf Türme
Die Duchessa hatte den Morgen damit zugebracht, die Ratssitzung zu leiten. Die zweihundert Ratsleute hatten Mühe, sich über die sieben Anklagen zu einigen, die ihnen vorgetragen wurden, und die Duchessa hatte noch mehr Mühe, nicht zu gähnen.
Vielleicht erfinde ich eine neue große Maske für Ratssitzungen, dachte sie, eine, die auch den Mund bedeckt und nicht nur die Augen. Für solche gerichtlichen Sit
zungen, bei der sie bisweilen die entscheidende Stimme abgeben und immer ein Urteil fällen musste, konnte sie schlecht eine Stellvertreterin nehmen.
Nur ein einziger überführter Verbrecher war heute über die Seufzerbrücke in ihre Kerker gebracht worden. »Ich muss wohl auf meine alten Tage nachsichtig ge
worden sein«, sagte sie vor sich hin.
»Aber nein doch, Euer Gnaden«, entfuhr es ihrer jüngsten Zofe, die dann schnell die Hand vor den Mund hob, weil sie befürchtete, unverschämt gewesen zu sein.
»Ich wollte sagen, Euer Gnaden, Ihr seid nicht alt, ich meinte nicht, dass Ihr nicht nachsichtig seid. Äh…«
Die Duchessa beliebte zu lächeln. »Wie ist dein Name, Kind?«
»Barbara, Euer Gnaden«, sagte die junge Frau und knickste.
»Nun, Barbara, bist du nicht diejenige, die ich dem Mädchen auf der Piazza hin
terhergeschickt habe? Hast du was zu berichten?«
»Ja, Euer Gnaden. Unten wartet auch schon ein Mann, der Euch sprechen will.«
»Warum ist er noch nicht vorgelassen worden?«
»Euer Gnaden, die Schneiderin wartet auf die letzte Anprobe für Euer Kleid für das Fest der Maddalena«, sagte eine andere ihrer Zofen. »Wir dachten, das woll
tet Ihr doch sicher nicht aufschieben.«
Die Duchessa überlegte kurz. »In Ordnung. Schickt nach unten, dass der Bote inzwischen gut versorgt wird. Ich will ihn sehen, sobald die Schneiderin fort ist.
Ich hoffe, sie hat beide Kleider gemacht.«
Arianna konnte es kaum erwarten, Lucien wieder zu sehen. Seit dem Vorfall auf dem Boot hatte sie
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