Stadt der Masken strava1
nächstgelegenen Turms ein paar bewaffnete Männer. Rodolfo stieg leichtfüßig ab und half dem steifen Lucien, dem alles wehtat, vom Rücken des Pferdes. Es war Luciens Aufgabe, das Pferd am Zügel zu halten, während Rodolfo den Stadtwächtern ihr Anliegen vortrug.
»Wir suchen einen Anglese«, sagte er. »Einen gebildeten Mann, einen Gelehrten mit weißem Bart. Nein, ich weiß nicht, wie er sich nennt. Guglielmo vielleicht und sein Familienname fängt womöglich mit einem D an.«
»Ich kenne keinen Guglielmo, der der Beschreibung entspricht«, sagte der Wächter achselzuckend. »Aber wenn Ihr nach einem Gelehrten sucht, probiert es doch an der Universität.« Er machte ein Zeichen auf ein Stück Pergament und reichte es Rodolfo. »Das erlaubt Euch und Eurem Begleiter, bis zum Sonnenuntergang in Montemurato zu bleiben. Danach verstoßt Ihr gegen das Gesetz.«
»Danke«, sagte Rodolfo und sah Lucien beruhigend an. »Bis dahin sind wir längst weg. Nun benötige ich aber einen Stall und Futter für mein Pferd.«
Der Wächter wies ihm die Richtung und die Reisenden begaben sich über eine steile Kopfsteinpflasterstraße ins Innere der Stadt. Sie hielten an und kauften eine Flasche Wasser, etwas Brot, Oliven und Pfirsiche von einem Straßenstand.
Dann setzten sie sich vor dem Tor der Universität im Schatten eines Feigenbaums auf eine Steinbank und nahmen ihre Mahlzeit ein.
Studierende und Gelehrte gingen in ihren teils prächtigen, teils geflickten und schmutzigen Talaren ein und aus. Ein oder zwei hatten weiße Bärte, aber im vollen Licht der Mittagssonne hatten sie alle unverkennbar einen Schatten. Lucien zog sich weit in den Schatten des Baumes zurück, weil er nicht auffallen wollte.
Rodolfo runzelte die Stirn.
»Ich habe nicht das richtige Gefühl«, sagte er. »Ich glaube doch nicht, dass wir ihn hier finden.«
»Könnte er nicht im Gebäude sein«, fragte Lucien, »und gerade eine Vorlesung halten oder ein Experiment durchführen?«
»Das ist natürlich möglich«, flüsterte Rodolfo. »Aber wir Stravaganti können gewöhnlich spüren, wenn ein anderer aus unserer Bruderschaft in der Nähe ist. Wir werden voneinander angezogen, so wie mein Spiegel dich anzog. Du hättest wahrscheinlich ohnehin zu mir gefunden, selbst wenn ich Alfredo nicht nach dir geschickt hätte. Komm, du bist schließlich auch ein Stravagante – kannst du einen Bruder in unserer Nähe spüren?«
Lucien musste zugeben, dass er das nicht konnte. Rodolfo erhob sich und in dem Moment schlug eine Glocke ein Uhr. Das war die Zeit, zu der Lucien meistens seinen Unterricht im Laboratorium beendete.
»Arianna!«, rief er aus, als ihm dies plötzlich bewusst wurde. »Sie wird mich erwarten!«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Rodolfo. »Ich habe ihrer Tante einen Nachricht zukommen lassen, dass wir heute fortgerufen wurden. Nun komm, wir müssen wohl anderswo nach unserem Opfer suchen.«
Während sie sich in die Stadt aufmachten, lächelte Lucien vor sich hin. Er konnte sich vorstellen, wie enttäuscht Arianna sein würde, dass sie diesen Ausflug verpasste. Sosehr sie Bellezza mochte – sie war dennoch ganz wild auf Ausflüge, zu denen Mädchen in der Lagune kaum je Gelegenheit bekamen.
Montemurato wirkte auf Lucien wie die Kulisse zu einem Film. Alle Straßen hatten Kopfsteinpflaster, die Häuser waren hoch und krumm und die ganze Stadt wurde von den sie eindrucksvoll umringenden zwölf Türmen beherrscht. An diesem Schauplatz konnte man sich mit Leichtigkeit Geschichten voller Schwertkämpfe, lauernder Mörder in dunklen Winkeln, Verrat und Intrigen vorstellen. Lucien fiel auf, dass die gewöhnlichen Häuser zwei Türen hatten: ein riesiges Tor mit eisernen Scharnieren und Türklopfern und eine kleinere Tür, die neuer wirkte und höher in die Mauer eingelassen war. Er fragte Rodolfo, was es für eine Bewandtnis damit hatte.
»Die kleineren sind die Türen des Todes«, erklärte Rodolfo ungerührt. »Viele Leute ließen sie während der großen Pest vor zwanzig Jahren einbauen. Sie sind für die Särge.«
Lucien schauderte trotz des warmen Sonnenscheins. Die Leute hier im sechzehnten Jahrhundert gingen so nüchtern mit dem Tod um, während man in seiner Welt und Zeit eher ein großes Geheimnis daraus machte. Lucien versuchte den unheimlichen Gedanken an die vielen Pesttoten abzuschütteln, während sie sich weiter nach Doktor Dethridge umsahen.
Sie versuchten es in der Universitätsbibliothek, den vielen Kirchen und dem kleinen
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