Stadt der Schuld
bemerkte sie, dass das widerwärtige Grinsen von einem Moment auf den anderen aus dem Gesicht des Wärters wich. »Ja doch!«, murmelte der Mann verunsichert und trollte sich prompt, um ihr die Tür nach außen zu öffnen.
Ein schmales Lächeln trat auf Cathys Lippen, das erste Mal seit der entsetzlichen Nachricht von Aarons Verhaftung. Sie war sich plötzlich gewiss, dass ihr Plan gelingen würde.
Kapitel 38
Kapitel 38
Aber für Klein-Mary wird es zu kalt sein«, wandte Mary schwach ein. Sie wusste, sie würde Cathy nicht mehr umstimmen können. Diese war vor wenigen Minuten heimgekehrt, hatte sich ein paar Löffel der beklagenswert dünnen, aber wenigstens warmen Linsensuppe gegönnt, die Mary ihr aufgehoben hatte, und wickelte nun die Kleine in warme Decken ein. »Ich kann sie nicht hierlassen, Mary. Ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde und sie wird bald Hunger bekommen«, sagte sie bedauernd.
Mary setzte sich auf das wackelige Bettgestell an der Wand. »Soll ich nicht doch mitkommen?«
Cathy schenkte ihr einen warmen Blick. »Ich weiß das wirklich zu schätzen, Mary, aber du weißt ja selbst, es ist besser, du bleibst drinnen und niemand sieht dich. Außerdem wird sich Debby ängstigen, wenn sie von der Arbeit kommt und keiner von uns hier ist.«
Mary nickte verkrampft. Sie hatte ein ungutes Gefühl dabei, allein bleiben zu müssen. Seit ihrer Flucht und Aarons Verhaftung hatte sich ihrer aller Leben zu einem wahren Albtraum entwickelt. Als Erstes hatten sie notgedrungen ihre doch einigermaßen erträgliche Wohnung aufgeben und umziehen müssen, denn obwohl sich Cathy intensiv um Arbeit bemüht hatte, so hatte sie doch nirgendwo eine bekommen. Aber dann war es Cathy wenigstens gelungen, zumindest Debby in einer Weberei unterzubringen. Dort verdiente Marys kleine Schwester zwar nicht viel, aber jedes bisschen war mehr als willkommen, um sie vor dem Hungertod – oder schlimmer noch, dem Armenhaus – zu bewahren. Eine neue Unterkunft, deutlich billiger als die alte, aber leider auch wesentlich heruntergekommener, war dagegen schnell gefunden. Sie wohnten nun in einer stillgelegten Färberei, in einem großen Raum zusammengepfercht mit mehreren Familien irischer Herkunft. Nur vorgehängte alte Leintücher trennten sie von dem ständigen Streit, dem Gestank und der Unordnung, die die Iren um sich herum verbreiteten. Es war fast nicht zu ertragen. Aber konnten sie wählerisch sein? Cathy klagte jedenfalls nicht. Schließlich, so behauptete sie unbeirrt, gab es hier einen Ofen und Kohle. Und wenn es die Nachbarn gar zu toll trieben, wies sie die Geschwister darauf hin, dass das Dach über ihrem Kopf und die blind gewordenen Fenster immerhin dicht genug seien, um den eiskalten Wind und den Regen draußen zu halten. Ein in der Tat schlagkräftiges Argument.
Seit Kurzem hatte auch William eine neue Anstellung als Gehilfe in einer der unvermeidlichen Bierschenken des Arbeiterviertels, einem der ärmsten der Stadt und demzufolge vorwiegend von Iren bevölkert. Und obwohl Cathy wegen des damit zwangsläufig verbundenen rauen Umgangs des Jungen nicht allzu glücklich darüber war, war es in Wirklichkeit ein Segen. Seither brachte William doch hin und wieder ein Stückchen übrig gebliebenes Fleisch, einen Suppenknochen oder einen Kanten Brot mit nach Hause, die ihm die geknechtete Frau des Schankwirts, der ein Schläger und Halsabschneider war, in unbeobachteten Augenblicken zusteckte. Nahrung, die sie alle und vor allem Cathy, die Klein-Mary stillen musste, bitter nötig hatten. Doch trotz aller ihrer Mühen und zähem Sparwillen: Ihr Geld reichte keine weitere Woche mehr. Cathys und Aarons Ersparnisse, so hatte Cathy Mary vor einigen Tagen flüsternd anvertraut, waren aufgebraucht und es war ungewiss, wie es weitergehen sollte. Mary seufzte tief auf. »Ach, Cathy, das alles ist nur meine Schuld! Wenn ich doch nur nicht ...«
Cathy fiel ihr ins Wort. »Mary, ich habe es dir schon so oft gesagt: Es ist vergessen. Wir wollen nicht mehr daran denken.«
»Aber ...«
»Nichts aber!« Mit der Kleinen im Arm wandte sich Cathy zu ihr um und sah sie ernst an. »Mary, wir alle treffen Entscheidungen, die wir nachher vielleicht bitter bereuen und gerne ungeschehen machen möchten. Glaube mir, ich weiß, wovon ich spreche. Als ich fast so alt war wie du jetzt, machte auch ich einen Fehler, der schreckliche Folgen nach sich zog. Ich hätte, weiß Gott, gerne mein Leben im Tausch dafür gegeben, ihn ungeschehen zu
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