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Stadt der tausend Sonnen

Stadt der tausend Sonnen

Titel: Stadt der tausend Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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schüttelte langsam den Kopf. »Sie sehen es nicht richtig. Sie kannten zweifellos jemanden, der in einem dieser Sterbetanks verglühte, und jetzt möchten Sie um alles in der Welt, daß es nicht ganz ohne Sinn, ohne Nutzen gewesen ist. Ich kannte eine Menge Burschen, die draufgingen. Ich bildete sie aus. Es war kein einziger darunter, der nicht viel eher ein richtiger Mann geworden wäre, wenn er das getan hätte, was Sie taten, um diese Hände zu bekommen. Es ist egal, was es war. Denn das Leben – zu leben …« Er schnellte eine Münze auf die Theke gegen die zum Quadrat zusammengesetzten Geldstücke, die er vermutlich als Wechselgeld bekommen hatte. Zwei getroffene Münzen an der gegenüberliegenden Seite fielen klirrend auf den Boden. »… ist so. Der Feind ist nicht immer jemand, auf den man über einen Sandsack hinweg schießen kann. Und es gibt auch nicht immer jemanden, der einem sagt, wann man schießen muß und wann nicht. Die Frauen und Kinder wurden aus diesem Propagandaspiel nicht herausgehalten und haben ebenfalls Probleme, die sich so gut wie nicht von denen der Männer unterscheiden. Das ist eine Tatsache, die manche dieser ›echten‹ Männer nicht verkraften. Die Armee ist eben zu leicht und einfach: Kämpfe bis zum Tod, denn du tust es für eine gerechte Sache.«
    Der Offizier blickte Jon an. »Sie kannten also jemanden, der verkohlte? Aber verglichen mit dem, was Ihnen den Auftrieb zu leben gibt, hatte er nichts, wofür das Sterben sich lohnte.« Er machte eine Pause. »Das nimmt einen mit!«
    »So sehen Sie es also?« fragte Jon. Die Worte selbst mochten vielleicht grausam sein, aber der Ton verriet Staunen und die erste Spur von Verständnis.
    Der Psychohauptmann grinste. »Ja, genau so!« Das Grinsen erlosch. Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Sie hassen mich nicht. Seltsam, Sie hassen mich auch jetzt nicht. Sie kommen hierher, trinken mit mir, treiben Ihre Späße und ziehen mich auf, weil ich nicht wirklich an der Front war, aber es ist alles freundschaftlich gemeint, obgleich Sie jetzt wissen, daß ich einer der Verantwortlichen war. Oh, wir machten unsere Arbeit so gut! Und es ist ja viel einfacher für sie, an dem Gefühl festzuhalten, das wir uns so sehr bemühten, in ihnen zu wecken. Aber ich bin Psychologe, deshalb weiß ich genau, weshalb ich hier sitze und saufe. Ich weiß alles, was in mir vorgeht und mich bewegt. Ich weiß, warum ich mich gestern betrunken habe, und vorgestern. Ich weiß es, Sie wissen es, aber das hilft mir nicht im geringsten.«
    Alter und ihre Tante kamen aus dem Nebenzimmer zurück. Jon drehte sich auf dem Hocker um.
    »Hier sind wir«, sagte Rara. Sie trocknete ihre Augen an der Schürze. »Laß dich bald wieder sehen«, bat sie ihre Nichte. »Deine alte Tante ist jetzt eine ehrbare Frau.«
    »Ich komme bald«, versprach Alter und umarmte sie. Sie nahm Jons Hand und wandte sich zur Tür.
    Sie ließen sich Zeit auf dem Rückweg. »Hast du etwas über Nonik herausbekommen?« fragte Jon.
    »Mhm.« Sie streckte ihm ein Päckchen entgegen. »Einige seiner Gedichte. Er hatte sie in seinem Zimmer zurückgelassen, nachdem …« Sie schauderte.
    »Meine Tante wollte, daß ich bei ihr wohne«, murmelte sie nach einer Weile. »Fast wäre es ihr gelungen, mich zu überreden, denn es hätte mir wahrscheinlich sogar Spaß gemacht. Aber ich habe jetzt doch mein eigenes Apartment und bin es gewöhnt, meine eigenen Entscheidungen zu treffen.« Sie strich ihr weißes Haar über die Schultern zurück. »Gleichzeitig wurde mir klar, wie sehr ich sie liebe.«
    »Weißt du«, sagte Jon, »ich glaube, ich muß erst eins über den Schädel bekommen, bevor bei mir etwas einsinkt.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich dachte darüber nach, was ich über Sitten und Moralbegriffe sagte, die einen voneinander trennen. Dabei gleichen sich die Menschen doch zumindest im selben Maß, oder sogar viel mehr, als sie sich voneinander unterscheiden.«
     

 
5.
     
    Nimm Wut, ziehe sie durch die Schlingen der Gewalttätigkeit, leg diesen Ring um das Gehirn, umgib das Gehirn mit Knochen und sage dem Mann im Dunkeln, er ist allein.
    Blaues Wasser versickerte auf dem Kellerboden, und aus einer Ecke kam der Gestank von feuchten Fischsäcken. Jeof kauerte auf einem Faß. Seine Hände im Schoß öffneten und schlossen sich. Seit einer halben Stunde saß er schwer atmend in der Dunkelheit. Nicht so sehr Gedanken beschäftigten ihn, sondern Bilder: ein Mädchengesicht mit geschlossenen

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