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Stadt der tausend Sonnen

Stadt der tausend Sonnen

Titel: Stadt der tausend Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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Augen und einem roten Rinnsal, dünn wie ein Faden, über Lippen und Kinn; ein Toter, der beim Heulen der Sirenen auf den Kai fiel; ein Schaufenster, das im Mondschein unter seiner Faust zerschmetterte – damals hatte er sich den Arm aufgeschnitten, die Narbe war noch zu sehen. Hier, dachte er, kann ich in Ruhe mit meiner Wut sitzen und allein sein. Die Einsamkeit war schmerzhaft, aber er akzeptierte sie, weil er sich nichts anderes vorstellen konnte.
    Verarzte deine Wunden mit Grausamkeit. Vermische dein Blut mit dem Schmutz zwischen den Kopfsteinen am Hafen. Das schwimmende Herz steigt aus der See in die Rätsel der Stadt.
    Rennas Mutter starrte auf die Wohnzimmertür, als der Polizeibeamte sie hinter sich schloß, und dachte: Meine Augen werden explodieren, und ich werde schreien. Vielleicht ziehen sich Sprünge durch die Wände, und sie stürzen ein. Sie wartete. Nichts geschah. Sie sog die Luft ein und hörte sich schluchzen.
    Dann ging sie ans Videofon und wählte Dr. Wental. Er war der einzige Arzt im Haus. Doch noch ehe das laute Summen endete, fragte sie sich: Weshalb rufe ich denn einen Arzt? Warum nur?
    »Ja?« fragte Dr. Wental, als sein Gesicht sich auf dem Schirm abzuzeichnen begann.
    Da riß etwas in ihr, und sie schluchzte: »Dr. Wental – helfen Sie mir – sie ist tot. Meine Tochter Renna, sie ist … Oh, sie ist tot …« Ihre Augen brannten, ihre Wangen glühten, nur noch Tränen konnten ihr helfen.
    »Sie sind die Frau vom ersten Stock?«
    »Ja, ich – ja …«
    »Ich komme sofort hinunter.« Er schaltete ab. Die Zeit verging. Immer vergeht die Zeit, dachte sie. Wo führt sie hin? Es klopfte an der Tür. Sie öffnete. Der Arzt trat ein.
    »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich – ich wollte Sie nicht stören. Sie können nichts tun, ich meine, für mich. Weshalb habe ich Sie überhaupt die vielen Stufen heruntergeholt?« Sie schüttelte den Kopf.
    »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, versicherte ihr Dr. Wental. »Ich verstehe vollkommen.«
    »Der Polizist war gerade hier. Er teilte es mir mit. Sie konnten sie nicht eher nach ihrem Retinamuster identifizieren, weil ihre Augen ganz …«
    »Vielleicht könnte ich Ihnen ein Beruhigungsmittel geben.«
    »Nein, ich möchte keines. Ich wollte Sie gar nicht herunterrufen, ich meine … Dr. Wental, ich mußte ganz einfach mit jemandem sprechen. Da dachte ich zuerst an einen Arzt. Ich weiß auch nicht, weshalb. Aber ich will nur mit jemandem sprechen. Trinken Sie einen Schluck mit mir?«
    »Nun …« Er hielt verlegen inne. »Ja, gern.«
    Sie ging an den Schrank, holte Gläser und die grüne Flasche heraus und stellte sie auf die Tischplatte.
    Dr. Wental rückte einen Stuhl für sie heran. Er öffnete die Flasche und schenkte ein. Als sie ihr Glas in die Hand nahm, setzte er sich, goß seinen Drink hinunter und füllte sofort nach.
    Sie starrte auf die grüne Flüssigkeit, die in dem breiten Glas zitterte. »Dr. Wental, ich fühle mich so verlassen. Ich möchte einfach davonlaufen, mich irgendwo verkriechen. Als meine Eltern starben, war es bei weitem nicht so …«
    »Man sagt, der Tod eines Sohnes oder einer Tochter …« Der Arzt beendete den Satz nicht mit Worten, sondern einem Nicken. Hatte er sich inzwischen schon zum drittenmal eingeschenkt?
    »Ich liebte sie so sehr. Ich nehme an, ich habe sie verwöhnt. Ich schickte sie auf Parties, kaufte ihr schöne Kleider – so viele Kleider.« Sie spürte, wie wieder etwas in ihr zu reißen begann. Sie versuchte sich zu fassen. »Alle Eltern leben durch ihre Kinder, Doktor. Es ist doch nicht falsch, oder?« Sie fuhr sich über den Kopf, und das Tuch blieb an ihren rauhen Fingern haften. Sie betrachtete es, es waren grelle Farben, die lose Haut ihrer Hände wirkte grau dagegen.
    Als sie wieder hochsah, goß der Arzt sich erneut ein. Er lächelte verlegen. »Ich fürchte, ich bediene mich ein wenig zu großzügig. Verzeihen Sie bitte.«
    »Oh, das ist schon in Ordnung«, murmelte sie. »Ich trinke normalerweise überhaupt nicht und brauche das Zeug nicht. Schenken Sie sich ruhig nach.«
    »Danke.«
    »Mir ist, als müßte ich jemandem etwas geben, etwas für jemanden tun, mir selbst vortäuschen, daß ich …« Sie zögerte. »… überhaupt lebe.« Sie schob das Glas auf der Platte hin und her. Das Lampenlicht leuchtete durch das Grün und schillerte auf dem Blau der Tischplatte. »Daß ich lebe«, wiederholte sie.
    »Wollten Sie zuerst sagen, daß sie lebt?«
    Sie schüttelte den

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