Stadt des Schweigens
nehme ich nichts als gegeben hin.“ Er räusperte sich und fuhr fort: „Ich habe noch eine Information, die Sie überraschen wird, Miss Chauvin. Dr. Badeaux war bei diesem Fall nicht der Gerichtsmediziner.“
Sie straffte sich. „War er nicht? Wer dann?“
„Ihr Vater, Avery. Dr. Philip Chauvin.“
51. KAPITEL
Avery saß wie versteinert da, das Handy noch in der Hand, Herz und Gedanken rasten. Dr. Harris hatte ihr alles erklärt. Dr. Badeaux hatte seinerzeit zwei Stellvertreter ernannt, beides Ärzte des Bezirks West Feliciana. Der Gerichtsmediziner oder einer seiner Stellvertreter fanden sich bei jedem Todesfall ein, ob es ein natürlicher war oder das Ergebnis von Unfall, Selbstmord oder Mord.
In der Nacht des Mordes an Sallie Waguespack hatte sich Dr. Badeaux auf dem Flug nach Paris befunden, um dort seine zweiten Flitterwochen zu verleben. Ihr Dad war der dem Tatort am nächsten wohnende Gerichtsmediziner gewesen. Bei Dr. Badeauxs Rückkehr war Sallie Waguespack bereits beigesetzt worden. Er hatte die Vorgehensweise ihres Vaters akzeptiert, und sein Befund hatte fünfzehn Jahre lang Gültigkeit gehabt.
„Meine Jungs haben diese Sallie Waguespack nicht umgebracht. Sie wurden hereingelegt. Ihr Vater hat gekriegt, was er verdiente.“
Trudy Pruitt hatte die Wahrheit gesagt. Ihre Söhne waren hereingelegt worden. Und ihr Vater war Teil der Verschwörung gewesen.
Die Erkenntnis hinterließ einen bitteren Nachgeschmack bei Avery. Sie sprang auf und begann hin und her zu gehen, unfähig zu glauben, dass ihr Vater so etwas getan hatte. Sie hatte ihn für den ehrenwertesten Mann der Welt gehalten, für den anständigsten und aufrechtesten.
Der Karton mit den Zeitungsartikeln. Deshalb hatte er sie all die Jahre aufbewahrt – als schmerzliche Erinnerung.
Was er getan hatte, musste innerlich an ihm gefressen haben, daran zweifelte sie nicht. Hatte er all die Jahre gefürchtet, dass es herauskam, oder hatte er es sogar gehofft?
Genau das war es. Das erklärte das Warum. Er hatte mit der Schuld nicht länger leben können. Aber er hatte sich nicht umgebracht, sondern sich entschlossen, reinen Tisch zu machen und die Pruitt-Brüder zu rehabilitieren.
Und dafür war er ermordet worden.
Aber warum hatte er es überhaupt getan? Für wen hatte er gelogen?
Für seinen besten Freund, Sheriff Buddy Stevens.
Avery schloss die Augen. Buddy hatte sie angelogen, als sie ihm von den Zeitungsausschnitten erzählt hatte. Er hatte behauptet, keine Ahnung zu haben, warum ihr Vater sie aufbewahrt hatte, denn er sei in keiner Weise mit den Ermittlungen befasst gewesen.
Dabei hatte er bis zur Halskrause in der Sache dringesteckt.
Sie erinnerte sich an die Eintragungen im Tagebuch ihrer Mutter, dass nach dem Mord alles anders geworden und die Freundschaft ihres Vaters mit Buddy belastet gewesen sei. Hunter hatte ihr sogar erzählt, dass die beiden Männer nicht mal mehr miteinander gesprochen hatten.
Was konnte eine lebenslange Freundschaft derart zerstören?
Die Antwort war klar. Für einen Freund hatte ihr Dad gegen seine Prinzipien verstoßen und hinterher sich selbst und den Freund dafür gehasst.
Die arme Frau, und auch noch schwanger.
Schwanger von wem? Der Gedanke, der ihr mit einem Mal durch den Kopf schoss, gefiel ihr nicht. Sie lauschte. Lilah bereitete in der Küche gerade das Essen vor. Sie würde es wissen, denn sie hatte diese Zeit genau wie ihre Mutter bewusst erlebt. Sie hatte beobachtet, wie sich die beiden Freunde voneinander entfernten und sich schließlich verabscheuten.
Avery schnappte sich ihre Handtasche mit den beiden Tagebüchern ihrer Mutter darin und zog ihre Schuhe an. Vorsichtig spähte sie aus der Schlafzimmertür in den Flur. Das Haus war still, bis auf die Geräusche aus der Küche.
Sie huschte den Flur entlang und die Treppe hinunter. Aus dem Arbeitszimmer hörte sie Cherry und Buddy leise miteinander reden. Auf Zehenspitzen schlich sie an der geschlossenen Tür vorbei zur Küche.
Lilah blickte kurz über die Schulter zu ihr hin, als sie eintrat. Avery sah, dass sie dabei war, Käse zu reiben. Sie trug eine geblümte Schürze mit Rüschen und hatte Mehlflecken auf Nase und rechter Wange. Ein Blaubeerkuchen, so appetitlich wie das Bild aus einem Gourmetmagazin, stand zum Abkühlen auf einem Gitter neben dem Herd.
„Du siehst erfrischt aus“, stellte Lilah freudig fest.
„Jedenfalls rieche ich nicht mehr nach Feuer.“
„Es ist etwas dran an der These, dass Essen beruhigt. Findest
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