Stadt des Schweigens
Von hier aus konnte er Gallaghers Dach etwa einen Block entfernt sehen. Jetzt waren alle bei Philips Totenwache versammelt, sein Vater, seine Mutter, Cherry und Matt und vermutlich die ganze Stadt.
So war es hier nun mal.
Er glaubte nicht, dass Avery an seiner Teilnahme lag, und natürlich wollte er nicht dem Stevens-Clan begegnen. Denn er war nicht sicher, ob er seine Zunge im Zaum halten konnte.
Und das Letzte, was Avery brauchte, war eine Konfrontation.
Er presste die Handballen auf die Augen. Philip. Was für eine Sauerei. Verdammt!
Hunter ließ die Hände sinken und gestand sich ein, wie sehr er trauerte. Er wäre nur zu gern bei der Totenwache, um einem Mann Respekt zu zollen, den er immer bewundert hatte. Philip war sein Freund geworden, und er fehlte ihm sehr.
Manchen war ihre Freundschaft vermutlich seltsam vorgekommen, schließlich hatte der Altersunterschied etwa dreißig Jahre betragen. Aber sie hatten die Gefühle der Einsamkeit und Entfremdung geteilt und gemeinsame Erinnerungen, die auch Avery einschlossen.
Avery. Ein schöner Freund war er, ihr Vorwürfe zu machen und sie genau dort zu treffen, wo sie am verletzlichsten war.
Vielleicht hatte sie Recht, vielleicht war er wirklich hassenswert und grausam geworden.
Was war bloß los mit ihm? Warum sah er alles nur immer in Schwarz oder Weiß? Warum konnte er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg halten und seine Maßstäbe ein wenig herunterschrauben? Und wer zum Teufel war er überhaupt, sich moralisch aufs hohe Ross zu setzen?
Alles, was ich anfasse, verwandelt sich in Mist.
Hunter blickte über die Schulter in seine Wohnung. Er gierte geradezu nach einem Drink und stellte sich vor, wie er in der Küche das Gift seiner Wahl ergriff und sich betrank, bis er den Verlauf seines Lebens nicht mehr in Frage stellte und es ihn nur noch zynisch amüsierte, wenn ihn jemand, an dem ihm lag, hassenswert und grausam schimpfte.
Er schluckte trocken gegen die Gier und suhlte sich in Zorn, Frustration und Verlustgefühlen. Sie waren authentisch und gehörten zu seinem Leben wie das Atmen.
Nie mehr! schwor er sich und ballte die Hände zu Fäusten. Nie mehr würde er sich betäuben, um die Höhen und Tiefen des Lebens ertragen zu können.
Sarah schlug mit der Pfote gegen die Küchentür und bellte leise. Dann winselte sie.
Hunter drehte sich zu ihr um. Es war doch noch gar nicht so lange her, dass er sie ausgeführt hatte. Oder? Bei der Arbeit verlor er jedes Zeitgefühl.
Er ging zur Küche, während der Hund immer noch wimmerte. „Okay, Mädchen.“ Er nahm die Leine vom Haken, befestigte sie an dem Halsband und öffnete die Tür. Sarah machte einen Satz nach vorn und zerrte ihn in die Gasse, ehe er die Leine richtig festhalten konnte.
Als er sie gepackt hatte, ruckte er daran, und Sarah stand.
„Was ist los mit dir?“ Hunter beugte sich vor und kraulte sie hinter den Ohren. Anstatt sich zu setzen und in glücklicher Ekstase gegen ihn zu sinken, blieb sie jedoch wachsam stehen, jeder Muskel angespannt und leicht zitternd.
Stirnrunzelnd blickte er in dieselbe Richtung wie sie … in die enge, dunkle Gasse. „Was ist los, Sarah? Stimmt da was nicht?“
Die Hündin knurrte tief in der Kehle, und das Fell in ihrem Nacken richtete sich auf.
„Ist da jemand?“ rief er.
Stille. Die Augen leicht verengt, versuchte er Details zu erkennen, Silhouetten von Schatten zu trennen und wünschte sich Sarahs empfindlichen Geruchs- und Hörsinn. Er rief noch einmal, doch wieder kam keine Antwort.
Obwohl er die Klugheit seines Vorhabens bezweifelte, lockerte er den Griff und der Hund sprang vor – oder versuchte es zumindest. Hunter hielt ihn fest und zwang ihn, langsam voranzugehen, damit er selbst genügend Zeit hatte, seine Augen an das Dunkel zu gewöhnen.
Sobald sie die Mitte der Gasse erreicht hatten, zog Sarah tief knurrend nach rechts. Hunter hielt sie mühsam an der Leine zurück. Muskeln und Sehnen der Hündin traten hervor, als sie sich widersetzte und mit jedem Schritt heftiger zerrte.
Er sah Gemüsekisten – ein ganzer Stapel davon stand schief vor dem Piggly Wiggly vorne um die Ecke – und umgeworfene Abfalltonnen, deren Inhalt in der Gasse herumlag. Sarah begann zu bellen. Es war kein hohes, schrilles Bellen der Erregung, sondern ein tiefes, drohendes.
„Sarah!“ schimpfte er. „Die ganze Aufregung wegen ein bisschen Müll?“ Er beugte sich vor und tätschelte ihr die Seite. „Oder sind die Waschbären, die das angerichtet haben,
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