Stadt des Schweigens
niemand.“
„Das möchten die uns glauben machen. Deshalb sind sie so lange unbehelligt geblieben.“ Sie hielt ihr eine Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen. „Erzählen Sie mir genau, was heute Nacht passiert ist und was Sie bisher herausgefunden haben. Und ich sage Ihnen, was ich weiß. Zusammen bringen wir Licht in das Dunkel. Wir gehen zur Staatspolizei oder zum FBI. Wir zwei schaffen das, Gwen.“
„Wir zwei“, wiederholte Gwen, nahm Averys Hand und stand auf. Gemeinsam kehrten sie ins Bad zurück. Dort erzählte sie detailliert von den Ereignissen des Abends bis zu ihrer Rückkehr.
Avery dachte einen Moment nach. „Und Sie haben keine Ahnung, wer diese Frau war?“
„Nein.“
„Hat sie vom Münztelefon in der Halle angerufen?“ Gwen schüttelte den Kopf. „Dann musste sie sich über die Zentrale am Empfang verbinden lassen. Haben Sie gefragt …“
„Ja. Die sagten, sie hätten keine Ahnung, wer die Anruferin war. Sie hatten angenommen, es wäre eine Freundin von mir von außerhalb.“
„Aber Sie glauben das nicht.“
„Ich glaube überhaupt nichts mehr.“ Sie verschränkte die Finger ineinander. „Was ist Ihnen widerfahren?“
Avery erzählte von den anonymen Anrufen. „Sie sagte, Dad habe bekommen, was er verdiente, und ich käme auch noch dran. Ich hatte immer Mühe zu glauben, dass Dad sich selbst umgebracht hat, aber nach diesen Anrufen …“
„Danach haben Sie es gar nicht mehr geglaubt.“
„Stimmt. Die Frau rief noch einige Male an und beschuldigte Dad, ein Lügner und ein Mörder zu sein. Er habe geholfen, ihren Jungs den Mord an Sallie Waguespack anzuhängen, und sie habe Beweise.“
„Warum haben Sie ihr geglaubt? Nach allem, was Sie mir über Ihren Dad erzählt haben …“
„Ich fand einen Karton mit Zeitungsausschnitten in seinem Schrank. Sie stammten alle aus dem Sommer 1988 und betrafen den Mord an Sallie Waguespack.“
„Das könnte Trudy Pruitts Behauptung stützen.“
„Nicht unbedingt. Der Mord war die größte Sensation, die es in dieser Stadt je gegeben hat. Es war ein Schock und ein Weckruf. Dad sorgte sich um das Gemeinwohl. Wahrscheinlich hat er die Geschichte verfolgt, weil …“
„Avery“, fiel Gwen ihr ins Wort, „er hat diese Zeitungsartikel gesammelt und fünfzehn Jahre aufbewahrt. Dafür muss es einen Grund geben, einen persönlichen.“
Avery wusste, dass sie Recht hatte. Ihre Gedanken gingen in dieselbe Richtung. Doch ihr Vater war keinesfalls ein Mordkomplize, und das sagte sie Gwen auch.
Gwen widersprach nicht. „Wann haben Sie erfahren, dass die Anruferin Trudy Pruitt war?“
„An dem Nachmittag, als sie umgebracht wurde. Ich habe sie provoziert, bis sie mir ihren Namen sagte. Dann habe ich ihr versprochen, dass ich die Sache in Ordnung bringen und einen Weg finden würde, Donny und Dylan zu rehabilitieren, falls sie Beweise für ihre Behauptung hätte. Wir verabredeten ein Treffen für den Abend.“ Avery atmete tief durch und fügte hinzu: „Sie lebte noch, als ich kam, und sie versuchte, mir etwas zu sagen, aber dann starb sie.“
Erstaunt sah Gwen sie an. „Wussten Sie denn nicht, dass die ihr die Zunge herausgeschnitten haben?“
„Was? Sind Sie … das kann nicht …!“ Es stimmt, wurde Avery klar, als sie an das Gesicht der Frau mit dem blutigen Mund dachte.
Beide schwiegen eine Weile. Schließlich sagte Gwen: „Demnach können wir wohl mit Sicherheit davon ausgehen, dass es sich nicht um einen zufälligen Gewaltakt handelt.“
Ihr Sarkasmus ließ Avery zusammenzucken, und sie wechselte das Thema. „Buddy hat mich Einblick in die Ermittlungsakten im Fall Sallie Waguespack nehmen lassen. Es schien alles in Ordnung zu sein. Doch ich grübele immer wieder über den Karton voller Zeitungsausschnitte nach. Außerdem bin ich überzeugt, dass Dad sich nicht selbst das Leben genommen hat. Und nun diese anderen Todesfälle. Wer sind diese Leute, Gwen? Wer sind Die Sieben?“
„Setzen Sie die Informationen zusammen, Avery.“ Gwen beugte sich vor. „Sie sind Journalistin … wer passt ins Profil?“
Da Avery schwieg, fuhr Gwen fort: „Vermutlich sind es alles Männer. Andererseits, da mich heute eine Frau weggelockt hat, gehören vielleicht auch Frauen zu der Gruppe. Zweifellos sind alle langjährige Bürger von Cypress Springs, Stützen der Gesellschaft. Menschen, zu denen man aufschaut, in wichtigen Positionen oder Leute mit Einfluss.“ Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Wie Ihr Dad.“
„Er hätte sich
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