Stadt, Land, Kuss
die Realität ist schlimmer, als ich es mir jemals hätte vorstellen können. Die ganze Front des Otter House trieft von Gülle. Sie läuft über die Fenster, tropft von den Fensterbrettern, bildet Pfützen auf den Stufen und rinnt über den Pflasterbelag wie Schokolade aus einem Brunnen.
Schockiert stehe ich da und starre Emmas wunderschöne Praxis an. Wie lange wird es dauern, das alles wieder sauber zu machen? Werden dauerhafte Schäden zurückbleiben? Und kann ich in der Zwischenzeit überhaupt die Praxis geöffnet halten?
Der Gestank raubt mir den Atem, und mein Ekel verwandelt sich schnell in Wut.
Wie konnte das passieren? Wer war bloß so unaufmerksam? Doch plötzlich kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht gar kein Unfall war.
Es gibt viel zu wenige Parkplätze, ständig wird gebellt, und überall liegen Hundehaufen. Die Worte des alten Fox-Gifford kommen mir in den Sinn, außerdem sein Versprechen, er werde auf seine Weise gegen uns vorgehen. Damals hatte ich das für eine leere Drohung gehalten. Könnte er jemanden dazu angestiftet haben? Zuzutrauen wäre es ihm. Je länger ich darüber nachdenke, desto wütender werde ich, und meine Gewissheit wächst, dass der alte Fox-Gifford hinter diesem Anschlag steckt.
Ich gehe zurück in die Praxis und schicke Pippin mit einem Probenbehälter nach Hause, ehe ich Izzy von meiner Theorie erzähle.
»Was meinen Sie?«, frage ich sie. »Glauben Sie, dass der alte Fox-Gifford etwas damit zu tun haben könnte?«
»Wenn man bedenkt, was er Emma schon alles angetan hat, würde es mich jedenfalls nicht wundern. Er wollte von Anfang an keine zweite Praxis im Ort, und jetzt ist er wütend, weil seine Kunden zu uns wechseln wollen. Denken Sie nur an Cheryl. Ich weiß nicht, ob es ein Unfall war oder nicht, aber ganz sicher lacht er sich jetzt vor Schadenfreude halb tot.« Izzy hält inne. »Was werden Sie denn jetzt unternehmen, Maz?«
»Vielleicht sollte ich die Polizei anrufen und den Vorfall melden, meinen Sie nicht?« Ich bin mir nicht sicher. Ich war bis jetzt noch nie mit einer vor Gülle triefenden Praxis konfrontiert. So etwas wäre bei Crossways nie passiert.
»Sie sollten es schon allein wegen der Versicherung melden«, rät mir Izzy. »Ich sage Nigel Bescheid, er soll die Police heraussuchen, und dann sorge ich dafür, dass da draußen sauber gemacht wird.«
Ich wähle 999, und keine zehn Minuten später erscheint Talytons oberster und wahrscheinlich einziger Gesetzeshüter. Schwankend kommt er auf seinem Fahrrad den Hügel heraufgefahren, als hätte sein Vater gerade erst die Stützräder abmontiert. Der Polizist steuert sein Rad durch die Gülle, steigt ab und stellt sich mir als Police Constable Kevin Phillips vor. Er muss um die zwanzig sein, aber in der Uniform, die lose um seine Schultern hängt, könnte er auch glatt als Zehnjähriger durchgehen.
Der Mann sieht aus, wie wenn er keinem Kätzchen Angst einjagen könnte. Wie soll er sich da gegen die Fox-Giffords durchsetzen?
Er holt Notizbuch und Stift aus der Tasche und beginnt, sich Notizen zu machen. Seine Zungenspitze schaut zwischen den Lippen hervor, während er konzentriert die Buchstaben formt.
»Nichts deutet darauf hin, dass es etwas anderes als ein Versehen war«, sagt er schließlich. »Die Gülle war nicht speziell gegen das Otter House gerichtet. Ihre Nachbarn sind ebenfalls betroffen, bis hinunter zum Copper Kettle.«
»Da sehen Sie es doch. Der alte Fox-Gifford ist auch wütend auf Cheryl.«
PC Phillips schiebt den Stift und das Notizbuch zurück in seine Tasche, und ich versuche es erneut.
»Können Sie nicht den Fahrer des Traktors verhören oder so etwas?«
»Können Sie ihn denn identifizieren?«
»Den Fahrer selbst habe ich nicht gesehen, aber der Traktor war rot.«
PC Phillips unterdrückt ein Lächeln. »Haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie viele rote Traktoren in dieser Gegend herumfahren?«
»Aber Sie müssen doch irgendwo an der Straße Überwachungskameras haben«, gebe ich verzweifelt zurück.
»Es gibt ein paar Kameras am Marktplatz.« Er macht eine Pause. »Vielleicht könnte ich einen Blick auf die Bänder werfen.«
Na endlich … »Danke.«
PC Phillips kehrt zu seinem Fahrrad zurück, steigt auf und rollt vor bis zur Bordsteinkante. Dann sieht er über die Schulter – nicht einmal, sondern dreimal, wie ein Junge bei der Fahrradprüfung – und fädelt sich wacklig in den Verkehr ein.
Ich werfe noch einen Blick auf die Front des Otter House,
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