Stadt, Land, Kuss
zusammenbringen können.
Ich gehe zurück nach vorn und rufe meinen nächsten Patienten ins Sprechzimmer. Im Wartebereich sitzen noch drei weitere Kunden, dank Gloria und Ginge bin ich inzwischen zwanzig Minuten in Verzug.
Harriet. Nager. Braun. Grund für den Termin: Knoten.
Harriets Besitzerin stellt sich als Ally Jackson vor, die rasende Reporterin des Talyton Chronicle – die Frau, die sich die umwerfende Schlagzeile »Es bleibt immer etwas hängen« ausgedacht hat. Ihr Hosenanzug ist zu klein, die Jacke knittert unter ihren Achseln, die Hose endet mehrere Zentimeter über den Knöcheln, und der Stoff scheint seit Jahren Körpergeruch aufgenommen zu haben, den er jetzt in dem kleinen Sprechzimmer wieder ausdünstet. Ally reicht mir einen mit Löchern versehenen und mit Klebstreifen gesicherten Schuhkarton.
»Wir hätten sie Houdini nennen sollen – mein Mann musste neulich die Küchenmöbel auseinandernehmen, um sie wiederzufinden.« Allys Augen füllen sich mit Tränen. »Ich weiß nicht, was ich den Kindern sagen soll, wenn es Krebs ist.«
Ich biete ihr ein Taschentuch aus der Box an, die immer auf dem Computerbildschirm bereitsteht. Sie nimmt gleich mehrere und putzt sich die Nase.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich einen Hamster einmal so lieb gewinnen würde.«
Es ist tatsächlich schwer nachzuvollziehen, denke ich, als ich in den Schuhkarton schaue. Zwei stecknadelkopfgroße schwarze Augen starren zurück. Beeindruckende Schnurrhaare zucken bedrohlich.
»Sie ist sehr zutraulich«, erklärt Ally.
Halbwegs beruhigt hebe ich Harriet heraus, wobei ich darauf achte, die ganze Haut an ihrem Nacken zu packen, sodass sie sich nicht unvermittelt herumschwingen und ihre Zähne in meinen Finger schlagen kann.
»Sie hat erst ein einziges Mal einmal so fest zugebissen, dass es blutete«, fügt Ally hinzu, während ich Harriet auf meine Handfläche setze. »Können Sie den Knoten sehen? Er sitzt unter ihrem Schwanz. Ist es …?«
Ich sehe nicht nur einen Knoten, ich sehe zwei.
»Das ist kein Krebs, Mrs Jackson. Harriet hat eher ein Problem mit ihrer Geschlechtsidentität. Die Knoten sind aus gutem Grund da, sie ist nämlich ein Männchen.«
»Ein Männchen?« Ally wird rot. »Man sollte doch meinen, dass ich nach drei Kindern den Unterschied erkenne.«
Ich setze den Hamster zurück in den Karton, lasse ihn los und schließe hastig den Deckel.
»Ich bezahle draußen am Empfang, nicht wahr?«, fragt Ally.
»Ach, das kostet doch nichts.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Natürlich.«
»Vielen Dank. Sie sind ja alle so nett hier.«
»Das ist der zweite Termin, für den Sie kein Honorar genommen haben«, flüstert Frances, nachdem Ally gegangen ist. »Emma hätte ihr eine Terminpauschale in Rechnung gestellt.«
»Ich habe doch nur das Geschlecht ihres Hamsters bestimmt. Das hat zwei Sekunden gedauert.«
»Bald kommt halb Talyton und will eine Gratisuntersuchung. «
Ich konnte es einfach nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, für diese Nicht-Behandlung ein Honorar zu verlangen. Trotzdem sehe ich ein, dass Frances recht hat. Ich führe hier Emmas Praxis und keine Wohltätigkeitseinrichtung. Ich drehe mich zu den wartenden Tierhaltern um und rufe eine Frau mittleren Alters herein, deren Gesicht vor Verlegenheit puterrot ist, weil ihr Spaniel gerade sein Bein an einem der Stühle gehoben hat.
»Keine Sorge«, beruhige ich sie, »so etwas passiert manchmal. Wir sind das gewohnt.«
»Ich hole Izzy«, sagt Frances.
»Sie ist bestimmt noch mit Freddie beschäftigt«, entgegne ich. »Das kann ich schnell selbst wegwischen, es dauert nur zwei Minuten.«
Alles in allem war es ein guter Tag, denke ich, nachdem ich meinen letzten Patienten untersucht und die Notizen eingetragen habe. Emma wäre stolz auf mich.
»Gute Nacht, Maz«, verabschiedet sich Izzy. Frances ist schon gegangen. »Ich hoffe, alles bleibt ruhig.«
Das tut es. Das Telefon gibt den ganzen Abend keinen Ton von sich, sodass ich ohne Unterbrechung zu Abend essen, ein wenig fernsehen und in den Vet News blättern kann, ehe ich dusche, meinen Schlafanzug anziehe und ins Bett falle.
Etwa eine Stunde später werde ich durch lautes Klopfen und Rufen wieder geweckt. In meine Daunendecke gewickelt krieche ich aus dem Bett und luge aus dem Seitenfenster. Auf dem Parkplatz steht ein Geländewagen, und eine Gestalt steht in der Dunkelheit vor dem Eingang. Gähnend und ein wenig verärgert darüber, dass jemand einfach vorbeikommt, ohne vorher anzurufen,
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