Stadt, Land, Kuss
ich fest.
»Ich öffne immer die Post für Emma.«
»Mir wäre es lieber, wenn Sie die meine in Zukunft nicht mehr öffnen würden.«
»Ach, wie schade«, sagt sie. »Das spart so viel Zeit – und Tierärzte sind doch immer so beschäftigt. Vielleicht überlegen Sie es sich ja noch anders.«
»Ganz bestimmt nicht«, erwidere ich scharf. Ich will nicht, dass jemand meine private Post liest, und da ich die Schrift auf dem Umschlag erkannt habe, weiß ich ganz genau, dass dieser Brief privat ist. Trotz allem, was vorgefallen ist, schlägt mein Herz bis zum Hals, und meine Knie werden weich, als ich das Papier herausziehe. Er hat erkannt, wie viel ich ihm bedeute, er kann nicht mehr schlafen, nichts mehr essen, er kann ohne mich nicht leben … und das geschieht ihm verdammt noch mal recht!
Ich flüchte ins Sprechzimmer und überfliege den Brief – was nicht besonders lange dauert, denn es handelt sich bloß um eine Antwortkarte mit dem Logo der Crossways-Praxis.
Maz, Du hast ein paar Bücher vergessen. Sag Carol Bescheid, ob sie sie Dir nachschicken soll. Mike.
Mir wird ein wenig übel, als ich mir vorstelle, wie Mike beiläufig diese Notiz kritzelt und dabei keinen Zweifel daran lässt, dass ich nicht ihn, sondern eine der Sprechstundenhilfen am Empfang anrufen soll, wenn ich meine Sachen zurückhaben will. Ich schimpfe über mich selbst wegen dieses schwachen Moments, knülle die Karte zusammen und ziele auf den Papierkorb hinter meinem Schreibtisch.
»Neuigkeiten aus Ihrer früheren Praxis?«, erkundigt sich Frances, die sich an die Sprechzimmertür herangeschlichen hat, mit einem Ausdruck tiefster Besorgnis im Gesicht.
»Nur Werbung«, antworte ich, obwohl ich genau weiß, dass sie weiß, dass ich weiß, dass sie weiß, was darin steht.
Frances’ Lippen verziehen sich zu einem stummen O, und ich frage mich, ob sie beleidigt ist, weil ich ihr nicht vertraue. Pech für sie, ich werde meine Meinung auf keinen Fall ändern. Ich habe selbst erlebt, dass sich Klatsch und Tratsch in dieser Stadt schneller ausbreiten als die Maul- und Klauenseuche. Ich brauche nur an die Kassiererin im Gartencenter zu denken, die Emma zu ihrer »Schwangerschaft« gratulierte.
Frances sieht an mir vorbei. »Lass es doch draußen stehen, Gloria.«
Gloria müht sich, ein altes Fahrrad, auf dessen Lenker sie einen Weidenkorb balanciert, durch die zweiflügelige Tür in den Empfangsbereich zu schieben.
»Es ist mir lieber, wenn du es im Auge behältst.« Schwer atmend lehnt Gloria das Rad gegen den Empfangstresen. Mir fällt auf, wie die Kleider an ihrem knochigen Körper herabhängen, als sei gar kein Fleisch dazwischen. Sie trägt heute nicht ihre schwarzen Perlen, sondern ein Stück Bernstein an einer silbernen Kette.
»Holen Sie lieber Ihre Schutzhandschuhe, Maz«, sagt sie strahlend. »Ginge hat wieder einmal fürchterliche Laune.« Sie hebt den mit Schnur umwickelten Korb an, und zusammen mit dem Boden fällt eine rot getigerte Katze heraus, die wie der Blitz vom Empfangstresen springt und unter dem Regal mit Tierfutter verschwindet.
Was jetzt? Das Wichtigste bei einem Notfall ist, Ruhe zu bewahren, aber die Vorstellung, eine halbwilde Katze durch die ganze Stadt zu jagen, lässt das Adrenalin in meine Adern schießen.
»Türen schließen!«, rufe ich und schiebe den Riegel an den Eingangstüren vor. »Patient entwischt!«
»Ich dachte, er wäre krank«, kommentiert Frances. »Ich rufe Izzy, damit sie Ihnen hilft, ihn wieder einzufangen.«
Ich gehe neben dem Regal in die Hocke. »Komm her, Kätzchen.«
Ginge antwortet mit einem wütenden Fauchen und einem Schwall fauligem Fischatem. Ich halte eine Hand direkt vor den schmalen Spalt zwischen dem untersten Regalbrett und dem Fußboden und frage mich, wie um Himmels willen er sich da hineingezwängt hat. Ganz langsam tauchen eine rosa Nase und zarte Schnurrhaare auf, gefolgt von einem Schlag mit der Pfote.
»Autsch!« Ginges Krallen verhaken sich in meiner Haut, als ich die Hand wegziehe.
»Hat er Sie erwischt? Das habe ich mir gleich gedacht.« Ich atme vor Schmerz durch die Zähne und beobachte, wie Blutstropfen aus meinem Handrücken sickern und festtrocknen, während Gloria fortfährt: »Emma hat die Schutzhandschuhe immer schon bereitliegen.«
Ich hole ein Paar Lederhandschuhe, die mir bis zu den Ellbogen reichen, und ein dickes Handtuch. Dann robbe ich in bester Ultimate Force -Manier über den Boden und versuche, Ginge mit schmeichelnder Stimme unter dem
Weitere Kostenlose Bücher