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Stadtfeind Nr.1

Stadtfeind Nr.1

Titel: Stadtfeind Nr.1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Tropper
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Gesichtsfarbe.
    »Du bist nicht mein Boss«, sagt er mit einem matten Grinsen. »Und außerdem siehst du selbst nicht besonders gut aus.« Ich sehe betont auf den dicken Joint, der locker zwischen seinen Fingern hängt. »Aus medizinischen Gründen«, sagt er. »Ich darf kiffen, du nicht.«
    Ich rolle den ledernen Schreibtischstuhl herüber und setze mich zu ihm ans Bett. »Ich will ja nicht an dir herumnörgeln, aber meinst du nicht, du solltest in einem Krankenhaus sein?«
    Er legt die Stirn in Falten und schließt die Augen. »Sie haben mir ein Hospiz empfohlen«, sagt er. »Aber ich werde mich nicht irgendwo in ein weißes Zimmer legen, vollgepumpt mit Schmerzmitteln und Antidepressiva, und auf mein Ende warten. Wie würde ich es denn dann wissen, wenn ich tatsächlich gestorben bin?«
    Ich nicke traurig, und zum ersten Mal erkenne ich, wie weit fortgeschritten Waynes Erkrankung wirklich ist. Er blickt nicht mehr auf Jahre oder auch nur Monate. Wochen ist eher wahrscheinlich, oder vielleicht auch nur Tage. Es muss eine Herkulesarbeit für ihn gewesen sein, sich anzuziehen und bei mir vorbeizuschauen, wie er es gestern Abend getan hat, und ich komme mir wie ein Idiot vor, dass ich das volle Ausmaß seines Zustands nicht auf Anhieb erkannt habe. Ich hätte ihn nach Hause fahren und gleich wieder ins Bett stecken sollen. Stattdessen bin ich mit ihm trinken gegangen.
    »Hast du Carly schon gesehen?«, fragt er. »Warum kommst du jedes Mal sofort auf diesen Punkt zu sprechen?«, sage ich, obwohl ich darauf gewartet habe, dass er mich danach fragt. »Weil es das ist, was zählt.« »Andere Dinge zählen auch.« Wayne schlägt die Augen auf, zieht einmal leicht an seinem Joint und stößt eine dünne graue Rauchfahne aus, während er. sich ein wenig aufrichtet. »Hier, an der Schwelle zum Jenseits«, erklärt er mit gespieltem Ernst, »ist mir, in Ermangelung eines besseren Worts, eine gewisse Weisheit verliehen worden. Eine Fähigkeit, die Dinge mit einer Klarsicht zu erkennen, die ich vorher nie besessen habe. Es ist ein Abschiedsgeschenk, nehme ich an. Du wirst nicht in die nächste Runde weiterkommen, aber hier ist ein Trostpreis, und danke fürs Mitspielen. Etwas in der Richtung.« Er hält einen Augenblick inne, um ironisch über seine Analogie zu lächeln, bevor er fortfährt. »Ich nehme an, dass mein Gehirn, weil es nicht länger mit den üblichen selbstbesessenen Sorgen um Gesundheit, Wohlstand und die Zukunft belastet ist, frei ist, endlich die tiefere Wahrheit in allem zu erkennen. Oder mit anderen Worten« - er hält einen Augenblick inne und sieht mich scharf an - »das, was wirklich zählt.«
    »Und was zählt wirklich?«, frage ich, während ich eine Wolke aus Secondhand-Marihuana einatme, die so stark ist, dass sie mir in der Kehle brennt.
    Er grinst mich an, ohne zu antworten, und sieht aus dem Fenster. Die Sonne steht über den Häusern gegenüber der Straße tief an einem violetten Himmel, und das Nachmittagslicht verblasst rasch zu den sanften rosa Färbungen des Abends. »Erinnerst du dich noch an den Tag, als wir die Schule geschwänzt und den Zug in die Stadt genommen haben - du, ich und Carly?«, sagt er.
    Ich nicke. »Na klar. Wir sind in den Central Park Zoo und dann ins Kino gegangen.«
    »Zurück in die Zukunft«, sagt Wayne und schließt die Augen, während er sich erinnert. »Wir waren die Einzigen im Kinosaal.«
    Auf einmal sehe ich vor meinem geistigen Auge lebhaft, wie Carly mitten im Film anfing, den leeren Gang hinunter Rad zu schlagen, und dann zu unseren Plätzen zurücktänzelte, das Gesicht gerötet vor Aufregung, während Wayne und ich applaudierten. Ich hatte es völlig vergessen, und als ich mich jetzt daran erinnere, spüre ich einen heißen Kloß in der Kehle. »Danach hatten wir Kentucky Fried Chicken«, sage ich. »Haben einen Eimer davon mit in den Zug genommen und uns auf der ganzen Heimfahrt den Bauch vollgeschlagen.«
    Wayne nickt lächelnd. »Damals lief dieser ganze Scheiß mit Sammy«, sagt er. »Ich hab damals noch immer geleugnet, tatsächlich schwul zu sein. Das war ein hartes Jahr für mich. Ich war verwirrt und verängstigt, und ich hatte dieses Riesengeheimnis, das ich mit niemandem zu teilen wagte. Aber an dem Tag haben wir uns alle köstlich amüsiert, besser, als wenn wir es an einem Samstag getan hätten.« Er wendet sich vom Fenster ab und sieht mich an. »Wir drei haben an dem Tag viel gelacht. Daran kann ich mich am meisten erinnern. Und für diesen

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