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Stadtfeind Nr.1

Stadtfeind Nr.1

Titel: Stadtfeind Nr.1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Tropper
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ich weiß nicht, zu der Zeit erschien mir einfach nichts besonders real.«
    Ich nicke, als hätte ich verstanden. »Wir sollten uns treffen«, sage ich. »Alles erzählen und überhaupt.«
    »Okay.«
    »Gut. Ich rufe dich heute Abend an.« »Nur wenn du willst«, sagt sie. »Fühl dich nicht verpflichtet.«
    »Ich möchte es.«
    Sie betrachtet mich einen Augenblick lang, und dann schüttelt sie sanft den Kopf, als hätte sich, was immer sie sich dachte, als eine Täuschung des Lichts erwiesen. »Wayne hat meine Nummer«, sagt sie.
    Ich sehe sie an und nicke dämlich. Ich kann noch immer nicht ganz fassen, dass ich Carly, nachdem sie so viele Jahre auf einem Podest in meinem Kopf stand, tatsächlich vor mir sehe, ein klein wenig verwittert vielleicht, aber im Wesentlichen unverändert.
    »Naja«, sagt sie. »Ich muss dann wieder in die Arbeit.« »Na klar.« Ich sage ihren Namen, als sie sich abwendet. »Ja?«, sagt sie und dreht sich noch einmal um. Ich zögere, nicht sicher, was ich sagen werde, bis mir die Worte über die Lippen kommen. »Ich kenne dich immer noch«, sage ich.
    Carly lächelt, ein aufrichtiges Lächeln, das so herzzerreißend vertraut ist, dass es mir den Atem verschlägt. »Joe«, sagt sie leise. »Du kennst mich nicht die Bohne.«
    Ich betrachte die sanften Kurven ihrer Waden, die glatten Muskeln darunter, die sich bei jedem Schritt biegen und dehnen. Ihre Beine habe ich immer geliebt. Sie hat sich gefreut, mich zu sehen; da bin ich mir ziemlich sicher. Natürlich, insgesamt betrachtet, muss das im Grunde nichts zu bedeuten haben, aber vielleicht bedeutet es ja doch etwas. Seit ich wieder hier bin, hat meine Vergangenheit eine frische, sorglose Unmittelbarkeit erlangt, und nichts scheint völlig unmöglich. Ich setze mich auf einen der Schalensitze aus Styrol, die in der Eingangshalle festgeschraubt sind, auf einmal außer Stande, mich auf den Beinen zu halten. Im Grunde läuft alles auf eines hinaus: Ich liebe sie immer noch. Vielleicht.

18
    Ich weiß nicht, wohin ich eigentlich wollte, als ich nach meinem Streit mit Brad aus dem Krankenzimmer stürmte. Vermutlich hätte ich mich einfach eine halbe Stunde in der Cafeteria abgeregt und mich dann wieder oben zu ihm gesellt. Aber nach meiner Begegnung mit Carly ist es mir unmöglich, still zu sitzen, um ein pappiges, eingeschweißtes Tunfischsandwich zu essen, und ebenso unmöglich, in die Stille des Krankenzimmers zurückzukehren und mich unter dem funkelnden, missbilligenden Blick meines Bruders zu winden. Irgendetwas, was im Stillen in mir schlummerte, ist durch das Wiedersehen mit Carly aufgerüttelt worden, und jetzt bin ich ein pulsierendes, pures Energiebündel, zappelnd und zuckend und wogend vor Adrenalin. In den weißen, sterilen Korridoren des Krankenhauses werde ich auf einmal klaustrophob und komme mir vor, als würde ich die Wände hochrennen müssen, wenn ich jetzt nicht rauskomme.
    Ich hinterlasse meine Handynummer im Schwesternzimmer und steuere seltsam aufgedreht dem Ausgang zu. Später werde ich mir von Wayne Carlys Nummer geben lassen und sie anrufen. Wir werden uns hinsetzen und reden, und irgendwann wird die Seltsamkeit allmählich abflauen, und dann ... Na ja, weiter als bis dahin kann ich eigentlich nicht vorausschauen, aber es kommt mir immer noch auf eine alte, vertraute Weise aufregend vor. In der Zwischenzeit, beschließe ich, als ich in meinen Wagen steige, werde ich Wayne besuchen.
    Der feuchte Duft von dampfendem Gemüse und Curry umfängt mich, als mich Waynes Mutter mit einem gemurmelten Gruß ins Haus lässt, bevor sie wieder durch die Schwingtür ihrer Küche verschwindet. Ihr Stirnrunzeln drückt deutlich aus, dass sie mir meine an Blasphemie grenzenden Bemerkungen der letzten Nacht nicht so rasch vergeben wird, und mein falsches Lächeln und mein fröhlicher Gruß drücken ebenso deutlich aus, dass mir nichts weniger egal sein könnte.
    Wayne sitzt auf Kissen aufgestützt im Bett und raucht andächtig einen lächerlich dicken Joint, als ich ins Zimmer trete. Er sieht blass aus und wirkt auffällig ausgemergelt, die Augen blinzeln tief aus ihren Höhlen, und seine Lippen sind überall aufgeplatzt. Als er mich anlächelt, sehen seine Zähne zwischen dem schrumpfenden, farblosen Zahnfleisch aus wie riesige zerklüftete Stalaktiten. Ich frage mich, ob er seit gestern Abend womöglich noch mehr abgenommen hat. »Ich hätte dich wirklich nicht so trinken lassen sollen«, sage ich, bestürzt von seiner leichenblassen

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