Stadtfeind Nr.1
einfach nicht, was ich sagen sollte.«
»Das ist völlig in Ordnung«, sagt Carly, steht abrupt auf und setzt meinen jetzt bandagierten Fuß auf dem Boden ab. »Denn wir werden sowieso mit Sicherheit nicht darüber reden.«
»Es tut mir Leid«, sage ich noch einmal.
»Vergiss es.«
»Was soll ich denn tun?«
Carly fixiert mich mit einem Blick, in dem sich Bitterkeit und resignierte Wärme unbeholfen mischen, wie Gäste, die zu früh zu einer Cocktailparty gekommen sind. »Du solltest gehen«, sagt sie.
Jared und ich fahren in gedämpftem Schweigen das kurze Stück nach Hause, während sich die letzten Marihuanareste aus unseren Adern verflüchtigen wie die Bläschen im Champagner, wenn er schal wird. Ich gehe mein Gespräch mit Carly noch einmal durch, versuche, mich an den genauen Tonfall zu erinnern, aber es verblasst bereits zu einer nebligen Unwirklichkeit. Ich habe noch immer keine Ahnung, was sie für mich empfindet, aber allmählich regt sich in mir der starke Verdacht, dass ihre Ambivalenz vermutlich kein Grund für grenzenlosen Optimismus ist. Wir fahren vorm Haus vor, und Jared stellt den Motor ab. Er lehnt sich zurück, als er mir die Schlüssel reicht. »Also, wie ist das dort für dich gelaufen?«, fragt er.
»Okay«, sage ich. »Nicht allzu gut. Ich weiß nicht. Lausig.«
»Solange du dir darüber im Klaren bist.«
»Was ist mit dem Fenstermädchen?«
»Kate.«
»Kate. Meinst du, du wirst in absehbarer Zeit mit ihr reden?«
»Ich weiß nicht«, sagt Jared. »Es ist zwar frustrierend, aber diese Phase hat doch irgendwo auch etwas Schönes.«
»Sie weiß nicht einmal, dass es dich gibt. Ich glaube nicht, dass du das zu Recht eine Phase nennen kannst.«
»Ich weiß. Aber ich habe immerhin noch nichts vermasselt.«
»Schon verstanden.«
Wir steigen aus dem Wagen und trotten über den Rasen in Richtung Haustür, zwei vom Kampf gezeichnete Soldaten auf der Rückkehr aus den Schützengräben, als Jared auf einmal stehen bleibt. »Ertappt«, zischt er mir durch die Zähne zu. Als ich den Kopf hebe und seinem Blick folge, sehe ich Cindy auf der Veranda stehen, allem Anschein nach erschöpft und stpcksauer. Sie nimmt unser zerlumptes, humpelndes, mit Farbe bekleckstes Erscheinungsbild mit wütendem, missbilligendem Ausdruck zur Kenntnis, in den Augen unverhohlene Feindseligkeit, als sie auf mir zu ruhen kommen. Ihr Gesicht zieht sich für einen Augenblick zusammen, als sie schnuppert, und ich habe keinen Zweifel, dass sie das Gras an uns riechen kann. Ich wappne mich für die unvermeidliche Standpauke, aber diese Nacht hat noch eine Überraschung mehr für mich auf Lager. Cindy kommt die Stufen hinunter, leise nickend, als hätte ich nicht mehr getan, als ihre schlimmsten Erwartungen zu bestätigen.
»Hi, Cindy«, sage ich, um das Schweigen zu brechen. »Was gibt's?«
In einem Anfall von Intuition weiß ich, weshalb sie da ist, noch bevor sie etwas sagt. Mein Vater ist aus seinem Koma erwacht. Es ist ein Wunder, wirklich; die Ärzte wissen nicht, was sie dazu sagen sollen. Die Schwester kam zufällig an seinem Zimmer vorbei, und da saß er aufrecht in seinem Bett, mit einem leicht perplexen Gesichtsausdruck, aber ansonsten kaum mitgenommen. Und als ihm das Beatmungsgerät abgenommen wurde, fragte er mit einer kratzigen Stimme nach seinen Söhnen, in der Pluralform, das heißt, nach allen beiden. Es wird eine Phase der Erholung geben, kleinere Rückschläge, Beschäftigungstherapie und zögernde Erörterungen unserer beschädigten Vergangenheit, Vorwürfe und verschleierte Entschuldigungen, aber bei alledem wird es ein Gefühl von Erneuerung geben, eine zweite Chance. Ich werde nicht davor zurückscheuen; ich werde meine Verbitterung und meinen ausgeprägten Hang zum Sarkasmus ablegen und diese Gelegenheit, wieder ganz zu sein, ergreifen.
Cindy hält meinem Blick für einen Moment stand und sieht dann über meine Schulter. »Dein Vater ist tot«, sagt sie.
Erinnerungen tauchen in einer Montage auf: mein Vater, der mir beibringt, mein neues Zweirad zu fahren, und dann panisch hinter mir her rennt, als ich auf einmal den Dreh raushabe und unsere Straße hinunterschieße, während Brad und meine Mutter im Vorgarten hysterisch lachen. Mein Dioramaprojekt über den Mount Saint Helens in der vierten Klasse, als er die halbe Nacht mit mir aufbleibt und versucht, die richtige Mischung aus Backpulver und Essig zusammenzurühren, um mit dem primitiven Pappmaschee-Vulkan, den ich gebaut hatte, einen
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