Stadtgeschichten - 01 - Stadtgeschichten
sondern etwas Schönes gewesen war, in der Fotos und Liebesbriefe und die honigsüße Stimme von Bing Crosby sie sanft durch den schwersten Winter ihres Lebens geleitet hatten.
Doch jetzt war es Sommer, und Bing wohnte gleich um die Ecke. Was war schiefgelaufen?
»›I’m … dreammminnngg … of a … whiiite … Chrissssmusss … juss like the ones I usssse to knooow …‹«
Vor lauter Tränen konnte sie das Lied nicht zu Ende singen. »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich schniefend bei ihrem Begleiter. »Ich sollte dich nicht damit belasten, mein Engel. Du bist so geduldig … und du bist so gut zu mir … Wenn es dich nicht gäbe, würde ich es machen wie Helen … aber garantiert … Sie geht mit ihrem Innenausstatter essen, stell dir das bloß mal vor! Aber komm jetzt. Da ist noch ein winzig kleines Schlückchen Mai Tai im Pitcher.«
Sie goß etwas Mai Tai in eine große Plastikschüssel, die auf der Terrasse stand.
Faust, ihre Dänische Dogge, leckte ihn mit Begeisterung auf.
Der Mann vom Dach
Boris’ Schwanz schlug wie ein Metronom den Takt, als er zuerst den Flur entlangschoß und dann die Stufen zum Dach hinaufstob.
Mary Ann zog den Bademantel über und machte sich an die Verfolgung dieses inoffiziellen Mieters. Sie hatte Angst, er könnte irgendwo im Haus eingeschlossen werden. Die Stufen zum Dach waren nicht mit Teppich belegt, sondern mit grünem Bootslack gestrichen. Ganz oben versperrte der Katze direkt neben einem efeuüberwucherten Fenster auch eine grellorange Tür den Fluchtweg. Boris war empört.
»Hierher, Schnurzilein … komm doch, Boris … braver Boris …«
Boris wollte nichts davon wissen. Er blieb wie festgenagelt stehen und zuckte immer wieder drohend mit dem Schwanz.
Mary Ann stieg weiter hinauf, bis sie nur noch einen Meter von der Tür weg war. »Du bist vielleicht ein Quälgeist, Boris! Aber das weißt du selber auch, was?«
Die Tür flog auf und traf Boris von der Seite, worauf der entgeisterte Kater jaulend die Treppe hinunterjagte. Mary Ann war starr vor Schreck.
Vor ihr stand ein großer Mann mittleren Alters.
»Tut mir leid«, sagte er peinlich berührt. »Ich habe Sie nicht gehört. Hoffentlich habe ich Ihrem Kater nicht weh getan.«
Mary Ann bemühte sich, ihre Fassung wiederzufinden. »Nein … ich glaube nicht …«
»Sie haben einen hübschen Kater.«
»Oh … es ist nicht mein Kater. Er ist so eine Art Gemeinschaftskater. Ich glaube, er ist ganz unten am Ende der Straße zu Hause. Entschuldigen Sie … ich wollte nicht stören.«
Der Mann machte ein besorgtes Gesicht. »Ich hab sie ganz schön erschreckt, was?«
»Halb so schlimm.«
Lächelnd streckte er ihr seine Hand entgegen. »Ich bin Norman Neal Williams.«
»Hallo.« Als sie ihm die Hand schüttelte, fiel ihr auf, wie groß seine Hand war. Allerdings wirkte der Mann gerade durch seine Größe besonders verletzlich.
Er trug eine ausgebeulte graue Anzughose und ein bügelfreies Hemd mit kurzen Ärmeln. Ein kleines Büschel dunkelbrauner Haare drängte sich über die Oberkante seiner Klemmkrawatte.
»Sie wohnen doch gleich hier unten, nicht?«
»Ja … Ach so, entschuldigen Sie … Ich bin Mary Ann Singleton.«
»Auch drei Namen.«
»Wie bitte?«
»Mary Ann Singleton. Das sind drei Namen. Genau wie Norman Neal Williams.«
»Ach so … Wollen Sie denn Norman Neal genannt werden?«
»Nein. Nur Norman.« – »Aha.«
»Wissen Sie, ich stelle mich gern mit vollem Namen vor, weil Norman Neal Williams so schön fließt.«
»Da haben Sie recht.«
»Darf ich Sie zum Kaffee einladen?«
»Oh, danke, aber ich habe noch so viel zu …«
»Die Aussicht ist wirklich hübsch.«
Das wirkte. Sie wollte gern sehen, welchen Blick man von da oben hatte, und außerdem war sie neugierig, wie es in dem Lilliputhäuschen auf dem Dach aussah.
»Okay«, sagte sie lächelnd. »Gern.«
Die Aussicht war umwerfend. Weiße Segel auf einer Bucht in Delfter Blau. Angel Island in der Ferne eingehüllt in Nebel und geheimnisvoll wie Bali Ha’i. Kreisende Möwen über roten Ziegeldächern.
»Die Miete zahlt man dafür« ,sagte er, als wollte er sich für die drangvolle Enge entschuldigen. Sitzen konnte man nur auf dem Bett und auf einem Küchenstuhl neben dem Fenster, das auf die Bay hinausging.
Mary Ann seufzte beim Anblick des Panoramas. »Das Aufstehen muß für Sie jeden Morgen ein Genuß sein.«
»Das stimmt. Aber ich bin nicht viel hier.«
»Oh.«
»Ich bin Vertreter.«
»Ach so.«
»Für
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