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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
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muffige, schimmelige Räume, in denen nur Spinnen hausten. Plötzlich erschien hinter einem Türpfosten der Kopf eines Mannes. »Hallo!«
    Michael zuckte zusammen.
    »Schuldigung«, sagte der Mann. »Sie haben mich aber auch erschreckt.«
    Michael fing sich wieder. »Ich suche das Badezimmer«, sagte er. »Tut mir leid.«
    »Na, das muß Ihnen nicht leid tun. Letzte Tür auf der rechten Seite. Es sei denn, Sie meinen das Klo.«
    »Eigentlich, ja«, sagte Michael mit einem verlegenen Lächeln.
    »Ah. Gleich hier gegenüber.«
    »Vielen Dank.«
    Der Mann hielt ihm die Hand hin. »Ich bin Teddy Roughton. Ähm … und was machen Sie hier?«
    »Oh.« Errötend schüttelte ihm Michael die Hand. »Ich bin Michael Tolliver, ein Freund von Mona. Ich dachte, sie hätte es Ihnen gesagt.«
    »Na … macht ja nichts. Das wird sie wohl noch. Fabelhaft … ein Gast zu Ostern.«
    »Gäste eigentlich. Wir sind zu zweit.«
    »Um so besser.«
    »Hoffentlich ist es keine Zumutung für Sie.«
    »Seien Sie nicht albern. Schauen Sie … warum bringen Sie nicht rasch Ihren Gang zur Toilette hinter sich und kommen dann zum Elf-Uhr-Tee zu mir?«
    »Wenn Sie wirklich meinen …«
    »Natürlich meine ich wirklich.«
    »Vielen Dank. Dann werd ich mal …« Er machte eine halbherzige Handbewegung in Richtung Toilette.
    »Ja, nur zu. Ich erwarte Sie.«
    Als Michael hereinkam, saß Lord Roughton an einem kleinen Tisch vor dem Schlafzimmerfenster und goß gerade den Tee ein. Er war etwa fünfundvierzig, groß und schlank, beinahe schlaksig, und er hatte melancholische graue Augen, die ein wenig hervorquollen. Sein graumeliertes Haar war kurzgeschoren, und er trug den Schlafanzug, den Mona bei Harrods gekauft hatte.
    »Also«, sagte er und schaute hoch, »wie stehn die Dinge in Seattle?«
    »Oh … ich bin nicht aus Seattle.«
    »Aber setzen Sie sich doch, herrje.«
    Michael setzte sich.
    »Und wo kommen Sie her?«
    »Aus San Francisco.«
    »Tatsächlich? Ist ja hochinteressant.«
    »Wieso?«
    Die grauen Goldfischaugen quollen noch weiter heraus. »Weil ich dort hinziehe. Hat Ihnen Mona das nicht erzählt?«
    »Nein, hat sie eigentlich nicht.«
    »Na ja … es ist aber so. Ich war vor sechs Monaten dort, und seitdem bin ich verrückt nach der Stadt. Was nehmen Sie in Ihren Tee?«
    »Danke, aber ich habe vorhin schon …«
    »Bitte. Ich bestehe darauf. Sie werden vielleicht mein letzter Hausgast sein.«
    Michael lächelte ihn an. »Danke. Nur Milch.«
    »Gut.« Der Lord rührte die Milch in den Tee und reichte Michael die Tasse. »Ich muß sagen, das ist eine angenehme Überraschung.«
    Michael verschanzte sich hinter seiner Teetasse. »Wann ziehen Sie nach San Francisco?« fragte er.
    »Ach … in vierzehn Tagen oder so. Ich muß erst noch das Haus verkaufen.«
    Damit hatte Michael nicht gerechnet. »Verstehe. Dann ist es also … für immer.«
    »O ja.«
    »Und Sie haben keine Angehörigen, die …«
    »Hier weitermachen? Nein, das will ich nicht hoffen. Ich bin … wie soll ich das dezent umschreiben …«
    »Der letzte Ihrer Art.«
    Lord Roughton nickte. »Der letzte meiner Art«, flüsterte er, als sei es ein intimes Geständnis.
    Michael reagierte mit einem Lächeln.
    Der Lord erwiderte es. »Mummy und Daddy leben noch … wie Sie bald sehen werden … aber ich fürchte, die Scillies werden ihre letzte Zuflucht bleiben.«
    Die »sillies«? Waren sie etwa senil? »Sie wollen sagen …?«
    »Sie leben jetzt auf den Scillies. Aus Steuergründen.«
    Michael nickte.
    »Vor Land’s End, wissen Sie. Die Inseln.«
    »Oh … ja.«
    »Es ist die einzige Möglichkeit, wie man sich expatriieren und trotzdem Brite bleiben kann.« Er hob seine Teetasse und betrachtete Michael über seine Nasenspitze hinweg. »Wir haben unsere Aristokraten ins Meer getrieben.«
    Michael lachte.
    »Also«, sagte Lord Roughton, »wie lange leben Sie schon in San Francisco?«
    »Beinahe … neun Jahre.«
    Der Lord seufzte und schaute hinaus auf das moosbewachsene Torgebäude und die Felder dahinter. »Wir sind seit neunhundert Jahren hier.« Er verdrehte träge die Augen. »Die Roughtons als Familie, wohlgemerkt. Ich selbst nur knapp halb so lange.«
    Michael weigerte sich, auf das Lamento einzugehen. »So schlimm kann es nicht sein.«
    »Na ja … ist es auch nicht. Nicht immer. Aber ich habe gewisse Entscheidungen bezüglich meines weiteren Lebens getroffen, und Easley hat darin keinen Platz mehr. Wissen Sie, was ich hier tue? Ich führe das Leben eines Vermieters. Einmal im

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