Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
Freunde waren in letzter Zeit auffällig um ihn besorgt, und wenn er mit ihnen zusammen war, empfand er oft einen enormen Erwartungsdruck – sie wollten ihn glücklich sehen, doch die Freude eines Wiedergeborenen, die sie in seinen Augen suchten, würde er nie heucheln können.
Mrs. Madrigals mexikanische Entdeckung erwies sich als schlauchartiger Raum am Ende einer Gasse in der Nähe vom Moscone Center. Aus unerfindlichen Gründen nannte sich der Laden Cadillac Bar. Das kitschige Lupe-Velez-Ambiente stieß auf allgemeinen Beifall, und sie schlürften Margaritas wie Tagungsgäste auf einer dreitägigen Sauftour durch Acapulco.
Vielleicht lag es am Alkohol, doch etwas an Mary Anns Benehmen kam Michael seltsam gekünstelt vor. Während des Essens hing sie meistens an Brians Arm, lachte ein bißchen zu laut über’ seine Witze und himmelte ihn an – ganz das kleine Frauchen, und zwar penetranter, als Michael es je an ihr beobachtet hatte. Als ihre Blicke sich für einen Moment trafen, schien sie seine Verwunderung zu bemerken und sagte mit viel zuviel Munterkeit: »Das ist ein tolles Lokal. Wir sollten alle schwören, daß wir’s nicht weitersagen.«
»Zu spät«, entgegnete er und parierte ihr Ablenkungsmanöver mit einem eigenen. »Schau mal, wer grade reingekommen ist.«
Mary Ann und Brian sahen gleichzeitig zur Tür.
»Doch nicht jetzt!« zischelte Michael.
Mary Ann sah ihn schelmisch an. »Du hast gesagt ›Schau mal‹ …«
»Es ist Theresa Cross«, murmelte er. »Mit so ’ner Schwuchtel von Atari.«
»Mensch«, sagte Brian, »die Witwe von Bix Cross?«
»Genau.«
»Sie ist auf allen seinen Plattenhüllen«, sagte Brian.
»Teile von ihr«, verbesserte ihn Mary Ann.
Brian setzte ein geiles Grinsen auf. »Richtig.«
Mrs. Madrigal machte ein ratloses Gesicht. »Ihr Mann war Sänger?«
»Sie wissen doch«, sagte Michael. »Der Rockstar.«
»Ah.«
»Sie hat ein Buch geschrieben«, ergänzte Mary Ann. »Mein heben mit Bix. Sie wohnt in Hillsborough, in der Nähe der Halcyons.«
Die Vermieterin bekam große Augen. »Tja, meine Lieben, es sieht so aus, als wollte sie zu uns.«
Michael taxierte die langbeinige Gestalt, die in forschem Gang auf den Tisch zukam. Die kunstvolle Unordnung ihrer Heuhaufenfrisur sollte eindeutig suggerieren, daß in die dunklen Tiefen ihres Haars kleine Zweige als Stützelemente eingebaut waren, auch wenn das wahrscheinlich nicht stimmte. Ansonsten konnte er nur noch ihre roten Plastizin-Fingernägel registrieren, dann war die Rockwitwe mit ihrer eklig süßen Aura von Ivoire auch schon heran. »Sie!« stieß sie fast schreiend hervor. »Mit Ihnen will ich reden!«
Die karmesinrote Klaue zeigte auf Mary Ann.
Mary Ann räusperte sich. »Ja?«
»Sie sind Spitze«, rief Theresa Cross begeistert. »Spitze, Spitze, Spitze!«
»Vielen Dank«, sagte Mary Ann errötend.
»Ich seh Sie mir dauernd an. Sie sind Mary Jane Singleton.«
»Mary Ann.«
Mrs. Cross hielt sich mit Nebensächlichkeiten nicht auf. »Dieser Hut war Spitze. Spitze, Spitze, Spitze. Wer sind diese reizenden Leute? Warum machen Sie uns nicht bekannt?«
»Äh … gern. Das ist mein Mann, Brian … und meine Freunde Michael Tolliver und Anna Madrigal.«
Die Rockwitwe nickte den dreien wortlos zu. Offenbar ging sie davon aus, daß ihr Name allen ein Begriff war. Dann wandte sie ihren Zigeunerblick wieder Mary Ann zu. »Sie kommen doch hoffentlich zu meiner Versteigerung?«
Das ist es also, dachte Michael. Leute von den Medien konnte Mrs. Cross auch in einem überfüllten Raum auf Anhieb orten.
Mary Ann geriet, wie beabsichtigt, in Verlegenheit. »Zu Ihrer …? Ich fürchte, ich habe …«
»O nein!« Die Rockwitwe verdrehte in gespieltem Ingrimm die Augen. »Sagen Sie bloß, meine schusselige Sekretärin hat Ihnen keine Einladung geschickt!«
Mary Ann zuckte mit den Schultern. »Anscheinend nicht.«
»Na … dann betrachten Sie sich hiermit als eingeladen. Ich mache diesen Samstag bei mir zu Hause eine Versteigerung. Ein paar Andenken an Bix. Goldene Schallplatten. Die Hemden, die er auf seiner letzten Tournee getragen hat. Lauter so Sachen. Witzige Sachen.«
»Toll«, sagte Mary Ann.
»Oh … und seine Lieblings-Harley … und seine Hanteln.« Ihr Zeigefinger wanderte in Brians Richtung. »Der da sieht aus, als ob er ein bißchen Kraftsport macht. Warum bringen Sie ihn nicht mit?«
Mary Ann warf einen Seitenblick auf »den da« und wandte sich wieder der angriffslustigen Witwe zu. »Ich weiß
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