Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
Vom Netzwerk:
nicht?«
    Mary Ann stellte die Schüssel ab und sah zur Britannia hinüber. An Deck spielte eine Kapelle den »Anniversary Waltz« – wohl zu Ehren der Reagans, die am Vorabend auf der Jacht ihren einunddreißigsten Hochzeitstag gefeiert hatten. Bald würden sie mit der Queen und dem Herzog von Edinburgh von Bord gehen und in Limousinen steigen, die sie zum Flughafen bringen sollten.
    Während die Britannia nach Seattle in See stach, würde die Queen mit ihrem Anhang nach Yosemite fliegen, um dort ihren Urlaub fortzusetzen. Der Präsident würde nach Klamath Falls in Oregon jetten und eine Rede über den Niedergang der Holzwirtschaft halten, und ein weiteres Flugzeug würde seine Angetraute nach Los Angeles bringen, damit sie sich in einer Sondersendung von Diff’rent Strokes über Kinder und Drogenmißbrauch auslassen konnte.
    Normalerweise hätte sich Mary Ann von derart kunterbunten Absurditäten mindestens zu einem kurzen zynischen Monolog provozieren lassen, doch sie war zu sehr mit ihrem eigenen Dilemma beschäftigt, um etwas Ätzendes über die Reagans abzusondern. Statt dessen biß sie die Zähne zusammen und wartete schweigend auf den letzten Teil dieses geistlosen, aufwendigen Stammesrituals.
    Der Regen ließ ein wenig nach. Eine Kapelle in Schottenröcken marschierte wacker auf dem Pier entlang, Feuerwerk explodierte am blaßgrauen Himmel, und eine Blondine mit schlaff herabhängenden Marabufedern stritt sich mit dem Wachmann am Aufgang zur Pressetribüne.
    »Aber ich bin von der Presse«, redete sie auf ihn ein. »Ich habe heute bloß meinen … äh … Ausweis nicht dabei.«
    Der Wachmann war unerbittlich. »Schauen Sie, Lady. Sie haben Ihren Job, und ich hab meinen.«
    Mary Ann ging zum Tribünenrand und rief zu dem Mann hinunter. »Sie gehört zu mir«, log sie. »Ich übernehme die Verantwortung.«
    Hocherfreut schenkte die naßgefiederte Blondine ihrer Retterin ein strahlendes Lächeln und schrie zu ihr hinauf: »Mary Ann! Gott sei Dank!«
    Mary Ann war es bereits peinlich. »Hallo, Prue«, sagte sie einsilbig.
    Die Möchtegerngesellschaftsdame, die wie Big Bird in einem Monsun aussah, bot wirklich einen traurigen Anblick. Prue Giroux war anscheinend aus dem Leim gegangen, seit sie ihren Job als Gesellschaftskolumnistin bei der Zeitschrift Western Gentry verloren hatte. Ihr ganzer Lebensinhalt waren Parties gewesen – »gesellschaftliche Anlässe«, wie sie es nannte –, doch der Strom von Einladungen und Presseausweisen war schon vor Monaten versiegt.
    Von denen, die sich zur Gesellschaft von San Francisco zählten, war niemand so entbehrlich wie eine gewesene Kolumnistin – außer vielleicht die Exfrau eines Kolumnisten. Und Prue litt an Entzugserscheinungen.
    Sie schüttelte ihre Federn auf und eierte auf Pfennigabsätzen die Stufen hoch. »Das war ja soo lieb von Ihnen«, sagte sie, wesentlich ruhiger als zuvor. »Ist das nicht total aufregend?«
    »Mmm.« Mary Ann wollte ihr die Freude nicht verderben. Prues Naivität war das einzige, was man an ihr achten konnte.
    »Sehen Sie!« rief Prue. »Da komm ich ja grade richtig!«
    Die Queen näherte sich am Arm des Präsidenten dem Fallreep. Sie trug einen weißen Hut und einen beigen Mantel. Als Mary Ann ihrem Kameramann das Zeichen gab, rauschte donnernder Applaus über den Pier, und Prue Giroux seufzte geräuschvoll. »Ach, Mary Ann. Schauen Sie, wie schön sie ist! Sie ist wunderschön!«
    Mary Ann gab keine Antwort und konzentrierte sich auf ihren Job. Das ganze Spektakel dauerte keine Viertelstunde. Als es vorbei war, stahl sie sich von Prue und dem Team fort und kippte einen steifen Drink im Olive Oil’s, einer Hafenbar nicht weit vom Pier. Vom Tresen, wo sie unter einer Girlande von Signalflaggen saß, sah sie der Britannia nach, die zum Golden Gate dampfte.
    Der Mann auf dem Barhocker neben ihr hob sein Glas in Richtung Schiff. »Ab dafür, altes Mädchen.«
    Mary Ann lachte. »Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund. Nur, daß das alte Mädchen nicht an Bord ist. Sie fliegt nach Yosemite.«
    Der Mann trank sein Glas aus und sah sie an. In seinen warmen braunen Augen lag ein spöttischer Ausdruck. »Ich meinte das Schiff.« Er hatte einen britischen Akzent, wie ihr jetzt auffiel.
    »Sie müssen von der Presse sein«, sagte sie.
    »Muß ich?« Wieder diese neckische Tour. Wollte er sie anbaggern?
    »Na, ich dachte nur. Der Akzent … ach, egal.«
    Der Mann lachte und streckte ihr die Hand hin. »Ich bin Simon Bardill.«
    »Mary Ann

Weitere Kostenlose Bücher