Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
das Abschiedsgeschenk von Ned sein. Er hat gesagt, er bringt es vorbei.«
»Ah.«
»Setz dich«, sagte er. »Erzähl mir was.«
Als sie sich setzte, fiel ihr ein weiterer Koffer auf, der auf dem Fußboden stand. »Für einen Monat nimmst du aber ’ne Menge Zeug mit.«
»Einen Koffer«, antwortete er.
»Was ist mit dem da?« Sie zeigte auf den anderen.
»Ach so.« Er grinste. »Der gehört Simon. Er hat ihn vorhin gebracht. Im Moment ist er grade zum Essen, unten am Washington Square.«
»Verstehe.«
Er warf ihr einen neckischen Blick zu. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß er so ein Appetithappen ist?«
Sie zuckte mit den Schultern und zwang sich, nicht rot zu werden. »Du hast nicht danach gefragt.«
»Ich hatte so ein Pferdegesicht mit abstehenden Ohren und schiefen Zähnen erwartet. Der Typ sieht aus wie eine schlankere Version von Brian.«
»Findest du?«
»Na, jetzt sag bloß, das ist dir nicht aufgefallen.«
»Nein«, erwiderte sie. »Eigentlich nicht.«
»Dann sieh ihn dir mal genauer an.«
»Ist das ’ne neue Jeans?« fragte sie.
»Die?« Er hielt die Hose hoch, die er gerade einpacken wollte. »Hab ich mir heute gekauft.«
»Sieht aus wie schwarz.«
»Sie ist schwarz. Der letzte Schrei. Siehst du?« Er hielt sie sich an. »Witwe Fielding geht nach London.«
Sie kicherte. »Du bist unverbesserlich.«
»Tja … ich sag mir, daß sie da drüben vielleicht noch keine haben. Könnte ein gutes Tauschobjekt sein, wenn ich mal klamm bin.«
»Du willst deine Hosen verkaufen?«
»Klar.« Er faltete die Levi’s zusammen und verstaute sie im Koffer. »Ich weiß noch, wie amerikanische Kids auf diese Weise ihre Reisen durch Europa finanziert haben.«
»Das ist ewig her, Mouse.«
»Na ja …«
»Wann warst du das letzte Mal in London?«
»Ähm … Ende der sechziger Jahre.«
»Ende?«
»Siebenundsechzig.«
»Mhm. Da hieß es auch Swinging London.«
»Na gut …«
»Und Twiggy war noch angesagt.«
Er gab sich schockiert. »Twiggy ist immer noch angesagt, vergiß das nicht!«
»Wie alt warst du damals?«
»Sechzehn«, antwortete er. »Es war vor sechzehn Jahren, und ich war sechzehn. Vor meinem halben Leben.« Er drehte sich mit einem Lächeln zu ihr um. »Da hatte ich auch mein Coming-Out.«
»Ehrlich? Das hast du mir nie erzählt.«
»Na ja … ich hatte jedenfalls meinen ersten Sex.«
»Wie auch immer«, sagte sie.
»Versteht sich Brian gut mit Simon?« fragte er.
»Moment mal. Ich dachte, wir reden von London.«
Er tätschelte die Außentasche seines Koffers. »Ich habe bereits meine Instruktionen.«
»Wie?«
»Simon hat mir einen kleinen Roman geschrieben, damit ich mich in seiner Wohnung zurechtfinde.«
»Hast du’s schon durchgelesen?«
»Nö. Das will ich nicht. Es soll eine komplette Überraschung werden.«
Das fand sie einleuchtend.
»Also?« fragte er.
»Was?«
»Verstehen sie sich gut, die zwei?«
»Mouse … was soll das?«
»Nur so«, meinte er mit einem Schulterzucken. »Ich bin halt neugierig.«
Sie zögerte. »Ich weiß nicht. Sie scheinen sich zu mögen. Sie sind beide spitz auf Theresa Cross.«
Michael verzog das Gesicht. »Das hat dir Brian einfach so gesagt?«
»Braucht er gar nicht. Ich kenn ihn doch. Er hat eine schmuddelige Phantasie, mit der er einen ganzen Sexshop betreiben könnte.«
Er grinste, als sähe er das entsprechende Bild vor sich. »Ja … das paßt zu ihm. Ein Mann, der von dir will, daß du beim Sex Leggings trägst …«
»Mouse …«
Sein anzügliches Grinsen blieb unverändert.
»Ich hätte es dir niemals sagen sollen. Ich wußte gleich, daß du’s mir irgendwann unter die Nase reibst. Außerdem … ich tu es nicht, weil er es will. Ich tu’s, weil ich Lust dazu hab.«
Er nickte und sagte mit gespieltem Ernst: »Ich bewundere Frauen, die sich zu ihren Schmuddelphantasien bekennen.«
»Das war der letzte saftige Klatsch, den du von mir erfahren hast.«
»Saftiger Klatsch? Du hast gesagt, es wäre ein transzendentales Erlebnis. Du hast gesagt, du fühlst dich dabei wie eins von den Girls aus Fame. «
Sie stürmte in seine Küche. »Ich hol mir ein Glas Wein.«
»Bedien dich«, rief er ihr nach. »Und bring mir auch eins mit.«
Einen Augenblick blieb sie im Lichtschein des offenen Kühlschranks stehen und genoß den Nachgeschmack seiner Hänselei. Sie hatte ihn geliebt, diesen sentimentalen, lustigen, sympathischen Kerl – länger noch, als sie jetzt Brian liebte –, und es war herzerwärmend, daß sie nun wieder
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