Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
unscheinbare Stück. Was machte es, wenn die Heizung nicht funktionierte? Er hatte sein Duvet, das ihn warm halten würde.
Er packte den Koffer vollends aus, machte sich mit dem ungewohnten neuen Geld vertraut und ging hinaus in den Abend. Es war ungefähr neun Uhr. Der Regen hatte aufgehört, doch an den leeren Obstständen, die wie Skelette an der Portobello standen, glitzerten noch perlende Tropfengirlanden. Als er von der Colville Crescent in die Colville Terrace bog, lockte ihn an der Ecke ein Pub mit gelbem Lichtschein und der Stimme von Boy George.
Er bestellte sich einen Cider, die englische Alkoholvariante, die ihn schon als Teenager in Hampstead so herrlich angeschickert hatte. Die Gäste des Lokals sahen eindeutig nach Arbeiterklasse aus. Zwei mondgesichtige Männer in Tweedmützen führten an der Bar ein freundschaftliches Streitgespräch, und an einem Tisch neben den Videospielen nippte ein stattlicher Rastafari mit Dreadlocks an einem dunklen Ale.
Im Nu war das Glas leer, und er bestellte sich noch eines, mit dem er zwei schottische Eier runterspülte. Als er das dritte Glas intus hatte, zwinkerte er bereits einer dicklichen Dame zu – sie saß ihm schräg gegenüber unter einem Spiegel mit einem goldglänzenden Reklamespruch. Sie war schon weit über vierzig und hatte ihr Make-up offenbar mit einem Spachtel aufgetragen, aber wie sie so alleine dasaß und trank und ihre dicken Waden im Takt von »Abracadabra« schlingern ließ, das hatte schon etwas Tapferes. Sie erinnerte ihn an eine der kreglen Barfliegen aus einem Andy-Capp-Cartoon.
Er bezahlte an der Bar und orderte ein Ale für den Tisch der Dame. Übermannt von mitmenschlichen Gefühlen, zwinkerte er der tapferen Schwester ein letztes Mal zu und wankte hinaus auf die Straße, um mit London seinen Frieden zu machen.
Jede Menge Zeit
Während der Lunchzeit ging es bei Perry’s noch hektischer zu als sonst, aber Brian stand es durch, indem er sich sagte, daß es nur noch knapp vier Stunden waren, bis er sich übers Wochenende nach Oakland absetzen konnte. Ein Gast hatte gerade ein Steak zurückgehen lassen (»Nennen Sie das etwa durch?«), und als er mit dem Ding in die Küche kam, sägte sich Jordache-Jerry mit einem schmierigen Grinsen an ihn ran.
»Deine Frau sitzt an einem von meinen Tischen, Hawkins.«
»Hau ihm eins drauf, das noch blutet«, sagte Brian zum Koch.
»Hast du gehört, Hawkins?«
»Ich hab’s gehört. Sag ihr, ich komm gleich.« Er checkte zwei Essen, um zu sehen, ob sie mit seiner Bestellung übereinstimmten, dann rief er dem bereits enteilenden Jerry über die Schulter nach: »Sag ihr, ich bin komplett mit Kundschaft eingedeckt.«
»Macht gar nichts«, rief Jerry zurück. »Sie ist komplett mit Engländern eingedeckt!«
Die spitze Bemerkung wurmte ihn immer noch, als er zehn Minuten später an Mary Anns Tisch einen Stopp einlegte. Tatsächlich – neben ihr saß Simon. Sie signierte gerade eine Speisekarte für die dicke Dame am Nebentisch und bemerkte ihn erst, als Simon sich dezent räusperte.
»Oh, hallo. Geht’s im Moment schlecht?«
»Alle Hände voll zu tun«, sagte er. »Ich kann mich jetzt wirklich nicht unterhalten.«
»Kein Problem.« Sie sah ihn mit ihrem Immer-mit-der-Ruhe-Lächeln an. »Ich wollte Simon nur das Lokal zeigen.«
»Und?« fragte er den Lieutenant. »Beeindruckt?«
»Es ist … ganz famos.«
Er nickte. »Wie ’ne japanische U-Bahn.«
Mary Ann und der Lieutenant lachten, aber nicht sehr. Sie schien sich seltsam unbehaglich zu fühlen, und er fand allmählich, daß sie auch allen Grund dazu hatte. Scheiße, wie kam sie dazu, den Burschen hierher mitzubringen?
»Bleibt es bei heute abend?« fragte er sie.
»Natürlich.«
»Meine Frau hat die Angewohnheit, mich zu versetzen«, erklärte er Simon.
»Na, jetzt mach aber ’n Punkt!« protestierte sie.
»Sie hat natürlich immer einen triftigen Grund. Erdbeben, Königinnen, Eisbären …«
»Entschuldigen Sie …« Es war noch einmal die dicke Dame, die diesmal Simon am Ärmel zupfte. »Vor lauter Aufregung hab ich ganz vergessen, auch Sie um ein Autogramm zu bitten.«
Simon war es grauenhaft peinlich. »Wirklich schrecklich nett von Ihnen, Gnädigste, aber ich wüßte nicht, was …«
»Ach bitte … Meine Tochter wird es mir nie verzeihen, wenn ich ihr nicht einen Beweis mitbringe, daß ich Sie getroffen habe!«
Der Lieutenant warf Mary Ann einen entschuldigenden Blick zu und kritzelte seinen Namen quer über die Speisekarte.
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