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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
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Magen, als würde er blanke Knochen in einer klaffenden blutlosen Wunde sehen.
    Er gab die schwache Hoffnung auf, daß vielleicht doch ein Nottingham Gate existierte, und ging vorbei an umgestürzten Mülltonnen (»Abfalleimer«, wie die Engländer sie beharrlich nannten) zum Eingang des zweistöckigen Gebäudes. Seine schlimme Ahnung wurde bestätigt, als er neben einem der Klingelknöpfe ein Schildchen mit dem Namen BARDILL entdeckte.
    Er stellte seinen Koffer ab, suchte den Hausschlüssel heraus und fummelte ihn ins Schloß. Ein dunkler Flur tat sich vor ihm auf. An der Wand, die mit einer wasserfleckigen Rosentapete beklebt war, ertastete er den Lichtschalter – es war ein runder Knopf, den man drücken mußte. Die Tür zu Simons Parterrewohnung war ganz hinten rechts. Als er den Wohnungsschlüssel gefunden und in das widerspenstige Schloß gesteckt hatte, hüllte ihn plötzlich völlige Dunkelheit ein, und einen Augenblick lang dachte er, er sei blind geworden.
    Der Lichtschalter. Natürlich. Das Licht schaltete sich nach einer Weile von selbst aus. Er erinnerte sich jetzt an diese sinnvolle Erfindung der britischen Elektroindustrie, die ihm bei seinem ersten Besuch aufgefallen war. Er hatte sie damals so reizvoll schrullig gefunden wie die elektrischen Handtuchwärmer und die Teekessel, die sich beim ersten Pfeifton automatisch abschalteten.
    Er drehte den Knauf, drückte die Tür mit der Schulter auf, und aus Simons Wohnung drang Tageslicht in den Flur. Ein übler Geruch, wie der stinkende Atem eines alten Hundes, umwaberte ihn. Er hielt die Luft an, stürzte zum nächsten Fenster und drückte es auf, um einen Schwall regenfeuchte Luft hereinzulassen.
    In einem Punkt hatte Simon nicht zuviel versprochen: Die Decke des Wohnzimmers war vierzehn Fuß hoch. Das verlieh dem Raum eine gewisse Aura von schäbiger Eleganz. Runtergekommen war der Ausdruck, den er verwendet hatte – eine Beschreibung, die ziemlich genau auf das Sperrmüllmobiliar paßte, das sich um den nicht funktionierenden Kamin gruppierte. Als einziges dekoratives Zugeständnis hingen viktorianische Zinngravuren an den blaßgrünen Wänden. Simons Stereoanlage und ein Stapel Schallplatten vervollständigten das düstere Tableau.
    Michael folgte einem schmalen Gang und fand das Schlafzimmer. Er stellte den Koffer ab und sank wie betäubt auf die Bettkante. Er ermahnte sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Schließlich war er übermüdet von seinem zehnstündigen Flug. Seine wachsende Verzweiflung konnte eine Folge seiner Erschöpfung sein – ganz zu schweigen von der speckigen Schneckennudel, die er im Flugzeug genossen hatte und die nun in seinem Magen rumorte wie ein Nagetier in den letzten Zuckungen.
    Er nahm an, daß es inzwischen Mittag war. Was er brauchte, war ein heißes Bad und viel Schlaf. Wenn er wieder aufwachte, würde seine Begeisterungsfähigkeit wiederkehren und mit ihr sein unschätzbares Talent, selbst qualvollen Umständen noch etwas Romantisches abzugewinnen. Was hatte er denn erwartet? Eine keimfreie Disney-Version von englischem Charme?
    Ja, genau das, entschied er, als er das Badezimmer sah. Er hatte sich so etwas wie die behagliche Stadtwohnung in 101 Dalmatians vorgestellt. Mit Rosen im Garten und dezenter Holztäfelung und – ja, verflucht – Handtuchwärmern im Bad. Was er statt dessen vorfand, war ein enger Raum, der nach alter Pisse roch und dessen blaue Decke mit weißen Wolken bemalt war. Wie die Decke einer organischen Bäckerei in Berkeley.
    Die Badewanne hatte Beine, was ihr immerhin einige Pluspunkte für altmodischen Charme brachte, aber das warme Wasser versiegte, als es knapp seine Knie umspülte. Regungslos lag er in der Wanne, trauerte seinen Illusionen nach und tadelte sich dafür, daß er auf einen Wohnungstausch mit einem Heterosexuellen eingegangen war, den er überhaupt nicht kannte.
    Kurz darauf ließ er sich aufs Bett fallen, konnte aber mindestens eine Stunde lang nicht einschlafen. Als er schließlich eindöste, hatte er den undeutlichen Eindruck, daß Regen auf die festgestampfte Erde seines »Gartens« prasselte, und dann hörte er noch ein anderes, mehr rhythmisches Geräusch. Waren das … Trommeln?
    Es war dunkel, als er aufwachte. Er stolperte durchs Zimmer, bis er einen Lichtschalter fand, und ging in die Küche, um nachzusehen, was er alles brauchte. Es war natürlich – bis auf ein paar angeschimmelte Nudeln und eine Dose Hering – nichts zu essen da, und bei Geschirr und

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