Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen
die Argentinier. In Amerika nannte man sie nicht so, weil man sich nie mit ihnen befaßt hatte. Erst wenn man Leuten ans Leben ging, machte man sich die Mühe, ihnen einen Schimpfnamen zu verpassen. Japse, Krauts, Commies, Gooks … Argies. Er hatte nicht die Absicht, den Krieg durch eine Debatte mit diesem Taxifahrer zu verlängern. »Mir gefällt eure Schlachthymne«, sagte er.
»Was?« Der Fahrer sah ihn an, als wäre er nicht mehr bei Trost.
(»Don’t Cry for Me, Argentina). Haben das eure Truppen nicht gesungen?«
Der Fahrer grunzte etwas. Offenbar war er jetzt überzeugt, daß Michael nicht ganz dicht war. Was sollte denn so ein blödes Lied mit all dem zu tun haben? Er sagte überhaupt nichts mehr, und Michael atmete erleichtert auf, während draußen blaßgrün und schemenhaft der Hyde Park vorbeihuschte.
Nach sechzehn Jahren kehrte er nun in diese Stadt zurück. So lange war er noch von keinem Ort weg gewesen, an dem er einmal gewohnt hatte. Er hatte hier seine Unschuld verloren – oder besser gesagt: gefunden –, als der Mod-Stil seine Blütezeit erlebte und Legionen von »Ischen« mit weißen Lippen und schwarz getuschten Wimpern die Straßen bevölkerten. Im Hampstead Heath hatte er einen Maurer kennengelernt, der einen Cordsamtanzug trug, und er war mit ihm nach Hause gegangen und hatte im Handumdrehen die Erkenntnis gewonnen, wie einfach und tröstlich und wunderschön das wahre Leben sein konnte.
Der Maurer war eine junge, schlanke Ausgabe von Oliver Reed gewesen, und noch jetzt konnte er sich an jede Einzelheit jenes weit zurückliegenden Nachmittags erinnern: die kleine David-Statue neben dem Bett, der braune Rohrzucker, den er sich in den Kaffee rührte, die Bodybuilderzeitschriften, die er für jeden sichtbar herumliegen ließ, und wie seidenweich sich der haarlose Hodensack seines Liebhabers anfühlte. Der erste Fremde, mit dem man es machte, war offenbar der, an den man sich sein Leben lang erinnerte.
Wo mochte er jetzt sein? Wie alt war er inzwischen? Fünfundvierzig? Fünfzig?
Am Marble Arch, den er sofort wiedererkannte, bog das Taxi links ab, und dann hatte er den Eindruck, daß sie der Bayswater Road folgten. Rechts sah er eine große Parkanlage – aber wie hieß sie? Er erinnerte sich nicht mehr. Er war schlapp und übermüdet, und der Regen deprimierte ihn so sehr, daß er nach britischen Ikonen Ausschau hielt, um sich innerlich an ihnen aufzurichten.
Ein naßglänzender roter Briefkasten.
Ein Zebrastreifen wie der auf dem Cover des Abbey Road- Albums.
Ein Kneipenschild, das im Wind hin und her schlug.
Die Atmosphäre wurde ruppiger, als sie in eine Gegend mit genormten Pizza Huts und schmuddeligen Nationalitätenrestaurants kamen. Das Viertel wirkte eigentlich nicht unangenehm, nur überraschend unbritisch – es hatte mehr Ähnlichkeit mit Haight-Ashbury als alles, was er bei seinem früheren Aufenthalt in London gesehen hatte.
Dann kam wieder eine reine Wohngegend. Er erhaschte einen Blick auf Straßen mit Bäumen zu beiden Seiten und überdimensionale viktorianische Reihenhäuser, von deren Fassaden der Verputz abfiel. Im Regen tollten schwarze Kinder vor einer gelben Backsteinmauer herum, auf die ein Sprayer geschrieben hatte: SCHEISS AUF DIE PRINZENHOCHZEIT.
Auf einem Straßenschild sah er den Namen COLVILLE. »Ist es nicht hier?« fragte er den Fahrer.
»Das ist Colville Terrace, Meister. Sie wollen in die Crescent. Das ist noch ein Stück weiter.«
Drei Minuten später hielt das Taxi. Michael sah mit wachsender Beklommenheit aus dem Fenster. »Was?« sagte er. » Hier?«
Der Fahrer machte ein beleidigtes Gesicht. »Sie wollten zur Nummer vierundvierzig, oder nicht?«
»Ja.«
»Na, das ist sie, Meister.«
Michael schaute auf den Taxameter (ein moderner digitaler, der in dem klassischen Taxi seltsam deplaziert wirkte). Er gab dem Fahrer eine Fünf-Pfund-Note und sagte ihm, er solle das Wechselgeld behalten. Das war reichlich großzügig, aber er wollte beweisen, daß ein Mann, der sich mit Kriegen und Straßen nicht auskannte, dennoch spendabel sein konnte.
Der Fahrer dankte ihm und fuhr davon.
Michael blieb auf der Straße stehen und betrachtete ungläubig Simons Haus. Die verputzte Fassade, offenbar ein Opfer von Trockenfäule, wies gewaltige lepröse Placken auf, die an manchen Stellen abgefallen waren und das Mauerwerk aus dem neunzehnten Jahrhundert freigelegt hatten. Aus irgendeinem Grund bekam er beim Anblick dieser Verunstaltung ein flaues Gefühl im
Weitere Kostenlose Bücher