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Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen

Titel: Stadtgeschichten - 04 - Tollivers Reisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Armistead Maupin
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auf diesen höchsten Punkt?«
    »Zu Fuß«, antwortete sie. »Aber es ist nicht anstrengend.«
    »Rauf nach Golgatha, hm?«
    Sie kicherte. »Genau.«
    »Tja …« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. »Ich bin ungenießbar, wenn ich so früh aufstehen muß.«
    »Mir macht es nichts aus.«
    »Und Brian?«
    »Was?« Er machte sie allmählich nervös. Sie hoffte, daß es ihr nicht anzumerken war.
    »Das frühe Aufstehen. Macht es ihm was aus?«
    »Oh, äh … er kommt gar nicht mit. Er geht zu einer Party bei Theresa Cross in Hillsborough. Wir sind beide eingeladen, aber … na ja, ich hab diesen Auftrag am Hals.«
    »Verstehe.«
    »Meine Motive sind vielleicht ein bißchen eigennützig.« Sie sah ihn mit ihrem gewinnendsten Lächeln an. »Ich wollte einfach ein bißchen nette Gesellschaft beim Gottesurteil.«
    »Wie Jesus zu Maria Magdalena sagte.« Seine Augen blitzten spöttisch.
    »Vielleicht ist es doch keine so gute …«
    »Nein«, sagte er, »ich würde sehr gern mitkommen.«
    »Bist du sicher?«
    »Absolut. Also … abgemacht!« Er bekräftigte seine Zusage, indem er die Hände auf die Knie klatschte.
    Sie stand auf. »Prima. Außerdem, hab ich mir gedacht, könnten wir am Abend vorher zusammen essen. Falls du nicht schon was vorhast.«
    Er sah sie einen Augenblick an. »Reizend«, sagte er dann.
    Als sie ging, spürte sie, wie er ihr nachsah. Es war ein Gefühl, von dem ihr beinahe schwindlig wurde, deshalb ging sie hinauf in das Häuschen auf dem Dach, um ihre Gedanken zu ordnen, ehe sie Brian gegenübertrat. Die Nacht war klar und roch nach frischem Regen. Im Schein der neuen Straßenlaternen in der Barbary Lane wirkte das junge Laub der Eukalyptusbäume gespenstisch bleich wie das sanfte Graugrün von wettergegerbtem Kupfer. Sie zählte vier erleuchtete Schiffe, die lautlos über die schwarze Fläche der Bucht glitten. Der große Neonfisch von Fisherman’s Wharf schimmerte pinkfarben über der Wasserfläche wie ein Talisman der Urchristen aus den Katakomben.
    Sie suchte den Polarstern und wünschte sich das einzige, woran sie im Augenblick denken konnte.
    »Laß mich raten.«
    Sie fuhr zusammen, als sie Brians Stimme hörte. Er stand an der Tür und lächelte.
    »Gott, hast du mich erschreckt«, sagte sie.
    »He. Tut mir leid.« Er kam zu ihr und küßte sie auf den Nacken. »Du hast dir grade was gewünscht, hm?«
    »Geht dich nichts an, Klugscheißer.«
    Er lachte in sich hinein und nuschelte an ihrem Hals herum. »Ich mag es, wenn du so Kleine-Mädchen-Sachen machst.«
    Sie gab einen mürrischen Laut von sich.
    »Ich habe nachgedacht«, sagte er, ohne sie loszulassen. »Wie wär’s mit Sierra City?«
    »Wieso?«
    »Für unseren Ausflug.«
    Damit wußte sie absolut nichts anzufangen.
    »Sag bloß, du hast es schon wieder vergessen.«
    »Na komm, laß mich nicht lange raten.«
    »Dieses Wochenende«, sagte er. »Ethelmertz?«
    »Ach so. Richtig.«
    »Oder irgendwo sonst an der Küste, ganz egal.«
    »Nein, Sierra City ist okay.«
    »Na schön«, meinte er. »Was hast du in der Tüte da?«
    Sie war so in Gedanken gewesen, daß sie den Sani-Fem fast vergessen hatte. »Ach … das ist ein … ach, laß mal. Interessiert dich sowieso nicht.«
    »Aber ja doch.« Er nahm ihr die Tüte ab und zog den Plastiktrichter heraus. »Großer Gott, was ist denn das?«
    Sie schnappte sich den Sani-Fem und ging entschlossenen Schritts zum Rand des Flachdachs an der Bayseite.
    »Verdammt, was machst du denn?«
    Sie sah hinunter in das dunkle Pflanzendickicht. »Nichts.«
    »Nichts?«
    »Bloß eine von meinen Kleine-Mädchen-Sachen.« Sie ließ ihre Hose fallen und streifte den Slip herunter.
    »Menschenskind, Mary Ann …! «
    »Nicht so laut«, sagte sie. »Sonst guckt noch jemand rauf.«

Wieder diese Frau
    Wilfreds Vater brüllte so wütend herum, daß Michael aus einem Traum hochschreckte, in dem er Jon auf einer Gartenparty von Buckingham Palace begegnet war. Er setzte sich im Bett auf und klammerte sich an die Phantasie wie an eine Daunendecke, während der Patriarch im Stockwerk über ihm Möbelstücke an die Wand donnerte. Durch den Lärm hindurch konnte er gerade noch Wilfreds dünne, kindliche Stimme ausmachen, die schrille Verzweiflungsschreie ausstieß.
    »Schwuchtel! « dröhnte der Vater. »Elende Schwuchtel … widerliches Dreckstück … dir werd ich’s zeigen, du kleiner …«
    Entsetzt sprang Michael aus dem Bett und zog sich Simons roten Satinmorgenmantel über. Er öffnete die Tür zum

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