Stadtluft Macht Frei
Gemeinschaften sehr: Ihre Mitglieder waren durch ihr Gelübde nicht mehr an ein bestimmtes Kloster, sondern nur noch an den Orden an sich gebunden waren
Das Große und das Kleine
Doch der Colmarer Dominikanerchronist schrieb auch andere Dinge auf. Inmitten einer Stadt sitzend, notierte er das Leben rings um ihn herum: das Große und das Kleine, das Hohe und das Tiefe, das Normale und das Abnorme. Hier finden sich Berichte über Aufenthalte des Königs in der Region ebenso wie Schilderungen über zahme Schweine, die in der Stadt Montbéliard wild durcheinander liefen und sich gegenseitig totbissen. Es gibt Notizen über einen Zweikampf zwischen einem Mann und einer Frau in Bern, bei dem die Frau den Mann besiegte, oder über eine Frühjahrskälte, die so bitter war, dass in den |126| Basler Kirchen der Messwein in den Kelchen und Krügen gefror. Hören wir den Chronisten selbst:
1288. Der Abt von Murbach vertrieb aus dem Flecken Gebweiler sämtliche Edle, wie sie sich gegenseitig auf hinterlistige Weise verwundet haben. Ein Sohn König Rudolfs, der Landgraf des Elsasses und Herzog von Bayern, rastete mit hundert Rossen im Hof der Schwestern unter Linde zu Colmar. Am 22. Januar stießen bei Montbéliard große Schwärme von Vögeln aufeinander und lieferten sich eine Schlacht, in welcher nach der Erzählung mehrerer Leute über dreihundert umkamen. In gleicher Weise kamen bei demselben Orte Scharen von zahmen Schweinen zusammen, und töteten sich durch gegenseitige Bisse. Am Tage vor Agathen leuchteten Blitze. Die Juden gaben dem König Rudolf zwanzigtausend Mark, damit er ihnen gegen die von Oberwesel und Boppard Recht verschaffe. In der Stadt Bern besiegte ein Weib einen Mann im Zweikampf. Um der Jungfrau Reinigung kam ein Sturm, der einen großen Wald bei Hohenack von Grund auf verwüstete. König Rudolf sammelte ein Heer, um eine vom Mainzer Erzbischof belagerte Burg zu entsetzen. 1
Die Bettelorden und die Städte
Die im 13. Jahrhundert entstandenen Bettelorden – Dominikaner wie Franziskaner, Karmeliten wie Augustiner-Eremiten – konzentrierten sich von Anfang an auf die Stadt. Dies war ihre Heimat. Hier fanden sie den idealen Nährboden für das, was ihre Tätigkeit im eigentlichen Sinne bestimmte: die Predigt. Zumeist wurden die Bettelorden in den Städten bereitwillig aufgenommen; die städtischen Führungsschichten kamen ihnen entgegen. Hier, in den Städten, entstanden ihre Niederlassungen, hier ihre großen Gotteshäuser, die Bettelordenskirchen, die sich durch ihre betont schlichte, weiträumige Saalarchitektur auszeichnen und dazu bestimmt sind, große Volksmassen aufzunehmen.
|127| Das Werk des Colmarer Dominikanerchronisten ist noch kein Zeugnis einer Stadtgeschichtsschreibung. Dazu fehlt vor allem die Konzentration auf die
eine
Stadt. Den Chronisten interessiert ebenso sehr das Geschehen in der Stadt Colmar wie in den benachbarten Städten am Oberrhein sowie auch in der Region um diese Städte herum. Doch der Autor war ein Mendikant, ein Bettelmönch. Er lebte – wie alle Mönche dieser neuen Bettelorden – nicht in der Abgeschiedenheit eines ländlichen Klosters, inmitten von Wäldern und Wiesen und umgeben von einer Grundherrschaft, sondern innerhalb der Mauern einer Stadt.
Der Colmarer Dominikanerchronist war Teil der neuen Stadtkultur und spiegelte sie zugleich. Er konnte sich den vielfältigen Dingen, die sich um ihn herum ereigneten, nicht entziehen. Er war von der Stadt und vom städtischen Leben fasziniert. Sein Werk, das eine neue Seite der Geschichtsschreibung aufschlägt, erzählt davon auf jeder Seite.
Ellenhard und das Straßburger Münster
Nicht weit von Basel und Colmar entfernt, in Straßburg, einer der wichtigsten, wirtschaftlich mächtigsten Städte am Oberrhein, entstand um 1300 der sogenannte Ellenhard-Codex. Er verdankt seinen Namen dem Straßburger Bürger Ellenhard, den man auch „den Großen“ nennt. Ellenhard entstammte der bürgerlichen Ministerialenschicht (vgl. S. 55) der Stadt.
Selbstbewusst waren die Straßburger Bürger gegen Walter von Geroldseck, den damaligen Bischof der Stadt vorgegangen. Walter beherrschte nicht nur die Stadt, sondern hatte auch aus den Trümmern der 1254 untergegangenen Stauferherrschaft erhebliches Kapital schlagen können. Unterstützung fanden die Straßburger Bürger in dieser Situation von einem der damals wichtigsten Territorialherren der Region, dem Grafen Rudolf von Habsburg, der 1273 nach den Wirren des Interregnums
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