Stahlhexen
fünfundsechzig Jahren.
Er blätterte das Buch noch einmal langsamer durch. Nach der Steel Witch kam Western Wonder - eine nackte Frau, die mit sechsschüssigen Revolvern am Rumpf eines Libera- tor-Bombenflugzeugs entlangzielte und deren Brustwarzen an Patronenhülsen erinnerten. Doch das Bild, das sich Fletcher unbewusst eingeprägt hatte, kam erst auf der Seite danach. Es war ein körniges Nose-Art-Foto, wieder auf einem »Mustang«. Darauf war eine junge Frau zu sehen, die nur mit einem schwarzen Schultertuch bekleidet war, das im Flugwind wehte. Mit der einen Hand zeigte sie nach vorn aufs Ziel und in der anderen Hand schwang sie einen Zauberstab. Sie hatte ein blasses Gesicht und dunkle Augen, das schwarze Haar wehte im Wind und die Lippen waren zu einem Zauberspruch geöffnet. Auch ihr Körper war wieder ganz mit Nieten bemalt. Und auch hier stand als Name: Steel Witch.
Noch eine Stahlhexe?
Zwei Seiten weiter stieß er auf den nächsten Schnappschuss eines »Mustangs«, auf dem wieder ein anderes Mädchen zu sehen war - die langen Beine um einen Besenstil gelegt, der Kopf in den Nacken geworfen, in den Ohren funkelnde Ringe: Steel Witch.
Ein paar Seiten weiter das nächste leicht verschwommene Foto, auch diesmal ein »Mustang«. Eine Frau, das Gesicht zum Himmel erhoben und die Augen geschlossen, warnackt auf einen Scheiterhaufen gebunden. Das lange Haar fiel ihr über die bloßen, mit Nieten verzierten Schultern und ging in den Haarspitzen in stilisierte Flammen über. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu erkennen, doch der Name mühelos zu entziffern: Steel Witch.
Fletcher kam insgesamt auf acht. Acht Stahlhexen - sinnlich, aggressiv und mit dunklen Nieten geschmückt, die das genietete Stahlblech des Flugzeugs motivisch aufgriffen. Alle Bilder zierten »Mustang«-Jagdflugzeuge, und alle trugen die Bildunterschrift: Pilot und Einheit unbekannt.
Fletcher klappte das Buch zu und ließ einen Augenblick die Hand darauf liegen.
Welche Verbindung gab es zwischen englischen Hexen und der US Air Force im Zweiten Weltkrieg? Vielleicht waren die Frauen einfach nur Fantasiegestalten, Idealbilder der Piloten und als Glücksbringer gedacht. Oder handelte es sich um reale Vorbilder? Hatten diese Frauen gelebt und geatmet?
Erneut sah er sich die Fotos an. Sie waren zwar unscharf- vielleicht in Eile aufgenommen -, aber die acht Bilder waren echte Kunstwerke und ließen ein professionelles Geschick erkennen, das den gröberen Darstellungen auf den anderen Flugzeugen abging. Hier war ein echter Künstler am Werk gewesen.
Fletcher fiel auf, dass das Buch im Vorjahr neu erschienen war, und er notierte sich den Autorennamen - »ein in der Nähe von Cambridge lebender Flugzeugfan«, so der Klappentext des Verlags. Dann kopierte er die Seiten mit den Stahlhexen.
In der Bibliothek war es kühl und ruhig. Durchs Fenster sah er, dass unten im Einkaufszentrum die Ladengitter heruntergelassen wurden.
Oder bilde ich mir das alles nur ein?, dachte er. Ob Daisy überhaupt dieses Buch gelesen hat?
Er dachte kurz über die Frage nach.
Dann klappte er das Buch in der Mitte auf und legte eine Zwanzigpfund-Note hinein. Er ging damit zur Theke und zeigte dem Bibliothekar die Seite mit dem Geld.
»Schauen Sie nur. Das hier hat jemand als Lesezeichen benutzt.«
Kopfschüttelnd kramte der Bibliothekar nach einem Umschlag und legte den Geldschein hinein. »Was die Leute alles in den Büchern liegen lassen. Ich hab schon Urlaubsfotos und gepresste Blumen gefunden.« Er las den Barcode des Buches ein, wandte sich seinem Bildschirm zu, sah etwas nach und schrieb dann einen Namen auf den Umschlag. »Oder auch Liebesbriefe - manches ging richtig zur Sache. Und letztes Jahr hab ich den Abschiedsbrief eines Selbstmörders gefunden. Keiner kam ihn holen.«
Als Fletcher die Treppe hinunterging, hatte er die Fotokopien der Nose Art unter den geschlossenen Parka gesteckt. Zwanzig Pfund ärmer, und er hatte keine Ahnung, ob das Buch im Arbeitszimmer seiner Mutter, das er von damals noch in Erinnerung hatte, irgendetwas mit der Nose Art der US Air Force zu tun gehabt hatte. Aber eines wusste er mit absoluter Sicherheit. Der Name, den er auf dem Bildschirm gesehen hatte - der Name der letzten Person, die das Buch ausgeliehen hatte -, lautete Daisy Seager.
Von ihrem Büro im Gebäude der Bellman Foundation sah Mia Tyrone, wie die Sonne hinter der Autobahn unterging und das orangerote Sonnenlicht das Eis auf dem kleinen See unter ihrem Fenster
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