Stahlhexen
aufleuchten ließ - genau bei der Fontäne, die wie eine große, gefrorene Eisklaue wirkte. Dann blickte sie in die entgegengesetzte Richtung und durch eine gläserne Trennwand in Nathan Slades Büro. Sein Bürosessel stand immer noch da - ein riesiges Ledermonstrum, das nach Zigarren stank -, doch alle anderen Überbleibsel von Nathan hatten in dem Karton auf seinem Schreibtisch Platz gehabt.
Nathan. Der widerlichste, unangenehmste Mensch, mit dem sie je zu tun gehabt hatte. Er war wie ein großer, Zigarre qualmender Bär gewesen, hatte immer zu dicht bei ihr gestanden, ihr das an Arbeit hingeworfen, wozu er selbst keine Lust hatte, und angesichts seiner näher kommenden Pensionierung genau gewusst, dass er ganz oben im Unternehmen Freunde hatte, Männer, mit denen er seit zwanzig Jahren in geselliger Runde Bier trank und sich Geschichten aus Air-Force-Zeiten erzählte. Männer, die sie wie zufällig streiften, die sie abstoßend fand. An jenem Septemberabend hatte Nathan noch spät am Abend gearbeitet. Nathan war von seinem Bürosessel aufgestanden und zu ihr hereingekommen, mit diesem Geruch, der ihm am Ende eines warmen Tages immer anhaftete - war hinter ihren Schreibtisch getreten, hatte ihr mit trockener Hand unters Kinn gefasst und den Hals gestreichelt, so plötzlich, dass sie einen Moment lang erstarrte. Als sie reagierte, war es schon vorbei gewesen, und er hatte einfach nur noch dagestanden und sie angegrinst.
Sie hätte es melden sollen, egal, wer seine Freunde waren. Manchmal konnte sie nachts nicht schlafen, weil sie ihn so schrecklich hasste. In dieser Zeit hatte sie begonnen, sich für Nathans Privatleben zu interessieren, für seinen Hintergrund und seine Lebensumstände. Als sie dann erfuhr, dass man den Kerl tot in einer tiefen Grube gefunden hatte, musste sie sich auf die Lippen beißen, um nicht zu sagen: Ja. Das passt genau, so musste er sterben. Am liebsten hätte sie es laut und deutlich ausgesprochen, mitten im Büro, vor all den Firmenmanagern, die zusammengekommen waren, um ihm posthum ihre Anerkennung zu zollen. Es kotzte sie an: dass sie einfach nicht sehen konnten, oder nicht sehen wollten, wie Nathan wirklich war. Und dass sie dann Sachen aus Nathans Haus geholt und ihr gegeben hatten, damit sie sie in diesen verdammten Karton packte.
Das Telefon läutete.
109
»Miss Tyrone? Hier ist Tom Fletcher.«
Sie sah, wie die letzten Strahlen der untergehenden Sonne das Eis auf dem See zum Glitzern brachten. Tom Fletcher: ein großer Kerl mit nettem Gesicht. Traurige, blaue Augen. Sah so aus, als ob er wüsste, was er tat.
»Sie können mich ruhig Mia nennen«, sagte sie.
»Mia, ich möchte die anderen Sachen aus Nathans Karton auch noch sehen.« Drüben in Nathans dunklem Büro konnte sie den Karton stehen sehen. Sie antwortete nicht gleich. »Und Sie können mich Tom nennen.«
»Sie haben mir also etwas über Nathan zu sagen?«
»Ich bin definitiv der Meinung, dass wir miteinander reden sollten.«
»Sieh an. Sie sind auf einen Deal mit mir aus.«
»Ich muss wissen, ob Nathan sonst noch etwas besaß, das mit mir persönlich zu tun hat, Mia.«
»Dann ...« Sie dachte einen Moment lang nach. »Dann sollten wir uns an der Ecke Sidney und Jesus treffen. Um 18.30 Uhr - nein, lieber um 19 Uhr.«
»Und Sie bringen den Karton mit?«
Sie meinte wieder, Nathans kalte Hand unter dem Kinn zu spüren. Tom Fletcher - irgendetwas war an diesem Mann, er kam ihr so vor, als werde er ihr helfen. Sie hatte einen Verdacht, was hier bei Bellman wirklich ablief. Sollte sie damit recht behalten, würde es der Firma irgendwann noch leid tun, dass man sie jemals ins Haus geholt und Nathan auf sie losgelassen hatte.
»Ja. Ich bringe den Karton mit.«
Dienstagabend
»Fällt dir irgendwas auf, Tom Fletcher?«
»Du hast ein bisschen Farbe bekommen.«
»Davon mal abgesehen.«
»Ach so, ja. Du bist nackt.«
Cathleen lächelte ihm in seinem dämmrigen Büro vom Telefonbildschirm auf dem Schreibtisch entgegen. Vor einem rötlich leuchtenden Abendhimmel voll dunkler Wolken saß sie im Schneidersitz auf einem kretischen Hotelbett, und ein Luftzug fuhr ihr durchs Haar. Das alles wurde via Satellit aus dem Mittelmeerraum übertragen, und auch das Lächeln in ihrer Stimme, als sie fragte: »Wärst du nicht auch am liebsten hier?«
»Was meinst du wohl?«
»Na, dann steig doch ins Flugzeug. Hier sind 26 Grad und vom Meer weht ein warmer Wind. Ich arbeite sieben Stunden am Tag, und danach bin ich ganz für dich
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