Stahlhexen
nach sieben fuhr ein Minicab langsam, aber trotzdem nach beiden Seiten Schneematsch verspritzend, durch die Sidney Street und hielt vor ihm am Straßenrand. Es war eine neue Limousine mit getönten Scheiben, und als die hintere Seitentür aufging, saß auf der Rückbank nur ein einziger Passagier.
»Sie sehen irgendwie so aus, als wäre Ihnen kalt, Tom.«
Mia Tyrone trug einen langen Steppmantel, dessen Reißverschluss bis zum Kinn zugezogen war, und flache Stiefel, in denen sich das Licht der Straßenlaterne spiegelte. Das Haar fiel ihr über die eine Schulter nach vorn und neben ihr lag eine Aktentasche aus Leder. Fletcher stieg ein, machte in der plötzlichen Wärme den Parka auf und nahm den Duft von Mias Parfüm wahr, der den Taxigeruch überlagerte. Die beiden sahen sich an, und der Fahrer schaute fragend in den Rückspiegel. »Kriegen Sie um diese Uhrzeit nicht auch manchmal Hunger?«, fragte Fletcher.
»Ja, aber die englische Küche ist nicht so mein Ding.«
»Was halten Sie von der polnischen Küche?«
Sie neigte den Kopf. »In Cambridge?«
Er nannte dem Fahrer eine Adresse. Dann ließ er sich in den Sitz zurücksinken und lächelte Mia an. »Ich würde Ihnen gern eins meiner Projekte zeigen.«
Stan war jemand, den Fletcher schon seit Jahren kannte. Der kräftige, schweigsame Pole Anfang fünfzig betrieb Vormittags einen Imbissstand am Marktplatz und kannte in seinem Leben nichts Wichtigeres, als der Kochkunst seiner
119Großmutter nachzueifern. Im letzten Frühjahr hatte Fletcher sich finanziell mit ihm zusammengetan, und sie hatten über einer Druckerei in der Nähe der Mill Road ein kleines Restaurant eröffnet. Stan hatte zwölf große Tische, jeder mit einer Kerze geschmückt, zwei Kellner, und wenn abends viel los war, stand auch noch seine Nichte hinter der Theke. Im ersten Sommer hatten die Leute bis auf den Bürgersteig Schlange gestanden und beim Warten auf der Treppe Alko- holowy getrunken. Selbst jetzt, so früh am Abend und bei eiskaltem Wetter, war das Restaurant zu einem Drittel besetzt. Mit seinem Anteil von Stans Gewinn zahlte Fletcher zurzeit seine Miete.
Stan kam in seiner weißen Kochkleidung aus der Küche, schüttelte Fletcher die Hand und registrierte mit hochgezogenen Augenbrauen, dass diesmal nicht Cathleen, sondern eine andere Frau ihn begleitete. Doch er nahm ihr den Mantel mit seinem üblichen grimmigen Lächeln ab und führte die beiden zu seinem besten Tisch in einer beheizten Nische am Fenster.
»Wollt ihr etwas trinken?«
»Wodka«, sagte Mia.
»Oranzada«, sagte Fletcher.
Mia trug noch immer ihre Bürokleidung, in der sie sich anscheinend wohlfühlte. Sie hatte breite Schultern, mittelgroße Brüste, saß leicht vorwärtsgeneigt da und blickte ihn an. Das Kerzenlicht schimmerte in ihren grünen Augen und ließ die beiden Farbtöne ihres Haars leuchten. Die Getränke kamen, und sie sah ihn durch ihr Glas hindurch an. »Sie trinken keinen Alkohol?«
»Nein. Noch nie.«
Sie nahm einen Schluck und betrachtete ihn aufmerksam.
»Erzählen Sie mir doch ein bisschen von sich, Mia«, bat er. »Wo kommen Sie eigentlich genau her?«
Sie befühlte den Heizkörper mit der Hand und lächelte. »Bowling Green, Virginia. Lachen verboten.«
»Ich lache doch gar nicht.«
»Es ist schön da.«
»Ich sehe weiße Gartenzäune vor mir, ein kleines amerikanisches Verwaltungsstädtchen.« Sie nickte. »Und wie fühlen Sie sich hier?«
»Ah, eine offene Frage. Die Lieblingsmethode der Psychotherapeuten. Und der Schnüffler.«
»Heißt das, dass es Ihnen hier nicht gefällt? Oder haben Sie nur was gegen Bellman?«
Sie beugte sich vor. »Ich will Ihnen mal was sagen. Jedes Jahr nimmt Bellman eine kleine Anzahl von Trainees an, bildet sie aus und schickt sie ins Ausland, damit sie das Geschäft kennenlernen. Diese Plätze sind heiß begehrt, ein wahnsinniger Wettbewerbsdruck, es kommen buchstäblich Tausende von Bewerbern auf ein halbes Dutzend Stellen.«
»Und Sie sind eine dieser Trainees?« Sie nickte. »Die diesjährige Trainee ?«
»Die aus dem letzten Jahr.«
»Sie sind also kein Trainee mehr?«
Sie antwortete nicht. Stan kam mit der Speisekarte und sie bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln, das in seinem vergrübelten osteuropäischen Herzen wohl einiges an Verwüstung hinterlassen würde. Sie tippte an ihr - fast leeres - Wodkaglas und sah in die Karte. »Kielbasa. Für zwei Personen, wie wär's damit?«
Sie sah Stan nach und richtete den Blick dann auf
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